Am Montag nach den Herbstferien gibt es im Englischunterricht der 7A viel zu erzählen. „What did everybody do?“, ruft Lehrerin Jeannine Schumann und wirbelt durch das Klassenzimmer. Die Finger fliegen nach oben, viele der 24 Schülerinnen und Schüler wollen etwas berichten – auf Englisch. Die Stimmung ist gut, es wird gelacht, jeder hört jedem zu. Auf den ersten Blick fällt nichts Besonderes auf in diesem sechseckigen Klassenraum der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule in Birkenwerder, in dem die Schülerinnen und Schüler in Gruppen an ebenfalls sechseckigen Tischen sitzen. Beim zweiten Rundumblick bemerkt die Besucherin, dass neben Lara* eine Erwachsene sitzt: Lara ist körper- und geistig behindert, sie hat eine persönliche Assistentin. Und als wenig später Tom unruhig wird und sich mit einer Aufgabenstellung schwertut, setzt sich der zweite Lehrer, Robert Schwill, mit ihm nach draußen und hilft ihm, sich zu konzentrieren. Vier Kinder in der 7A haben einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf, insgesamt zwölf sind laut Englisch- und Klassenlehrerin Schumann auffällig. „Viele haben Verhaltensprobleme, eine schwierige Familiensituation oder ein psychisches Problem“, sagt die 35-Jährige. In der Regine-Hildebrandt-Schule gehören sie alle dazu.
Mitte der 1990er-Jahre fusionierte die Hildebrandt-Schule mit der benachbarten Schule für Körperbehinderte. Seitdem wurde der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung stetig ausgebaut – und die Schule mehrfach für ihr integrativ-kooperatives Profil ausgezeichnet, etwa 2012 mit dem bundesweiten Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule. Aktuell haben laut Schulleiterin Kathrin Voigt zwölf Prozent der rund 750 Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf. Es gibt an der Schule Sonderpädagogen für alle Handicaps der Kinder, Sozialarbeiter, eine Physiotherapeutin und pädagogische Unterrichtshilfen; ein Wohnheim für Körperbehinderte ist angeschlossen. Im Schnitt werden zehn von 34 Wochenstunden pro Klasse im Doppel unterrichtet. Schumann und Schwill etwa teilen sich die Klassenleitung der 7A und unterrichten gemeinsam Englisch. „Das mindert zwar nicht die Arbeitsbelastung, macht aber zufriedener, da man Verantwortung teilen kann“, sagt Schulleiterin Voigt. „Gäbe es immer zwei Lehrkräfte pro Klasse, wären fast alle Probleme mit der Umsetzung der Inklusion gelöst.“
Völliges Neuland
Doch davon ist die Realität im Land weit entfernt. Brandenburg hat sich auf den Weg zur inklusiven Schule gemacht, doch für viele Schulen ist Inklusion noch völliges Neuland. Im Schuljahr 2012/13 ist an 84 Grundschulen, davon 75 in öffentlicher und neun in freier Trägerschaft, der Pilotversuch „Inklusive Grundschule“ gestartet. Der Fokus liegt auf Kindern mit den Förderschwerpunkten Lernen, sozial-emotionale Entwicklung und Sprache (LES). Die Projekt-Schulen nehmen alle Kinder auf, das für den gemeinsamen Unterricht übliche Förderausschussverfahren entfällt. Die Klassenstärke liegt bei 23 bis maximal 25 Kindern. Für fünf Prozent der Heranwachsenden bekommen die Schulen eine einheitlich bemessene sonderpädagogische Grundausstattung von je 3,5 Lehrerstunden pro Kind. 117 Lehrkräfte hat das Land dafür zusätzlich eingestellt. Die Pilotschulen werden wissenschaftlich von der Universität Potsdam begleitet. Alle Lehrerinnen und Lehrer bekommen 60 Stunden Fortbildung.
Die Landesregierung hat dieses Projekt mit viel Energie und unter Zeitdruck angeschoben. „Jetzt ist die Luft erstmal raus“, sagt Denise Sommer, Schulleiterin an der Grundschule Glienick und Vorsitzende des Grundschulverbandes Brandenburg. Die erste Zwischenbilanz von Bildungsministerin Martina Münch (SPD) ist dennoch positiv, sie sieht die Pilotschulen auf einem guten Weg. Auch die ersten Daten der Universität Potsdam legen dem Ministerium zufolge positive Schlüsse nahe: In den untersuchten Klassen wurde bei allen Schülerinnen und Schülern – sowohl bei jenen mit Förderbedarf als auch bei den leistungsstarken – ein altersgemäßer Lernfortschritt beobachtet. Allerdings fehlt in der Analyse der Vergleich mit Schulklassen, die nicht am Pilotversuch teilnehmen.
Ein kritischeres Bild zeichnen die Pädagoginnen und Pädagogen landesweit. „Die zusätzlichen Stunden sind in den Pilotschulen angekommen, das ist positiv“, sagt Birgit Rosenfeld, Leiterin des Vorstandsbereichs Schule/Berufliche Bildung der GEW Brandenburg. „Allerdings haben wir nach wie vor ein massives Vertretungsproblem.“ Das heißt: An vielen Schulen ist die Personaldecke so dünn, dass die Sonderpädagoginnen und -pädagogen als Vertretungslehrkräfte einspringen müssen.
Fachkräfte fehlen
Jahr für Jahr fallen in Brandenburg fast zehn Prozent der Unterrichtsstunden aus, weil Fachkräfte fehlen. Das Problem hat auch die Landesregierung erkannt. Kaum im Amt, kündigte der neue Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) im Sommer an, von 2014 an zehn Millionen Euro bereitzustellen, um Unterrichtsausfälle zu reduzieren. Davon sollen fünf Millionen als flexibles Budget direkt an die Schulen gehen, fünf weitere Millionen in zusätzliche Stellen zum Ersatz langzeitkranker Lehrkräfte investiert werden.
Doch es gibt noch weitere offene Baustellen. So ist etwa die Frage nach der Leistungsbewertung ungeklärt – die Pilotschulen haben dafür keine Anweisungen erhalten. „Für die Schulen ist das ein großes Problem“, sagt Sommer. Zudem gebe es fast überall Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendamt, Sozialamt und anderen Trägern, etwa wenn es um die Übernahme der Kosten für Schulhelfer gehe. Zudem sei wissenschaftliche Begleitung sehr zeitaufwändig. Demnächst stehen die nächsten Etappen der Reform an. Zum laufenden Schuljahr ist die zentrale Diagnostik nach landesweit einheitlichen Standards gestartet. Ab 2014 will man allen Grundschullehrkräften eine inklusionsspezifische Fortbildung im Land anbieten. Derzeit werden Reformpläne für die Leistungsbewertung und das Konzept für die Sekundarschulen entwickelt. Und für den barrierefreien Umbau einiger Schulen stehen in diesem Jahr nach Ministeriumsangaben sechs Millionen Euro aus EU-Mitteln zur Verfügung. Über alle Schritte wird auf der Internetseite www.inklusion-brandenburg.de informiert.
Die Pilotphase an den 84 Grundschulen läuft bis Mitte 2015, dann sollen die gewonnenen Erfahrungen in ein neues Schulgesetz zur Inklusion münden. Vom Schuljahr 2015/16 an sollen für Primar- und Sekundarstufe I neue Rahmenlehrpläne für den gemeinsamen, inklusiven Unterricht an Regelschulen gelten. Dabei stehen aber zunächst nur die Förderschwerpunkte LES im Fokus.