Lobbyismus und Schule
„Brainwashing in Reinkultur“
„Wie DAX-Unternehmen Schule machen. Lehr- und Lernmaterial als Türöffner für Lobbyismus“: So heißt eine aktuelle Studie der Otto-Brenner-Stiftung. E&W sprach mit dem Autor Professor Tim Engartner von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
- E&W: Warum diese Studie? Dass Unternehmen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien versuchen, ihre Produkte oder ihre Weltsicht in Schulklassen zu bewerben, ist ja kein neues Thema.
Tim Engartner: Das stimmt, aber die Studie ist der Versuch, diese Art von Lobbyismus als Massenphänomen nach-
zuweisen. Sie belegt, dass die Lobbyaktivitäten zu weitreichend sind, als dass die Bildungspolitik sie noch länger tolerieren kann.
- E&W: Sie haben 30 Großunternehmen unter die Lupe genommen. Wie viele bieten eigene Unterrichtsmaterialien an?
Engartner: Grundsätzlich kann man sagen, dass 20 der 30 Großunternehmen Unterrichtsmaterialien finanzieren, produzieren oder distribuieren. Besonders aktiv sind Firmen aus der Finanz-, der Automobil- und der Energiewirtschaft. Wenn die Unternehmen nicht selbst die Materialentwicklung anstoßen, sind sie über Initiativen, Netzwerke oder Vereine aktiv. Ein bekanntes Beispiel ist der Verein Wissensfabrik, der mehr als 140 Unternehmen unter seinem Dach vereint.
- E&W: Können Sie ein Fallbeispiel nennen, das Sie besonders empört hat?
Engartner: Besonders krass ist ein Unterrichtsmaterial von BMW. Da werden Kinder im Grundschulalter aufgefordert, die Frontansicht eines BMW nachzuzeichnen. Mund, Nase, Augen – fertig ist das BMW-Gesicht. Sie sollen sich damit beschäftigen, wie einzelne Automobile der Marke BMW aussehen. Das ist Brainwashing in Reinkultur. Man nimmt auch zunehmend Vorschulkinder in den Blick: Da verteilt Currenta, ein Ableger des Bayer-Konzerns, ein Wimmelbilderbuch über das „Chempark“-Betriebsgelände. Von der Deutschen Börse AG gibt es ein Pixi-Buch namens „Markt der Tiere“, das die Funktionsweise des Marktes erläutert. Mittlerweile geht man im Kampf um die Köpfe auch auf die Jüngsten zu.
- E&W: Sind Sie denn grundsätzlich dagegen, dass Unternehmen auf Schulen zugehen?
Engartner: Nicht grundsätzlich, nein. Viele Konzerne bieten Werksbesichtigungen für Schulen an, andere laden ins eigene Chemielabor ein. Das ist in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus legitim. Kinder und Jugendliche haben so Gelegenheit, einen Blick über die Schul- und hinter die Werkstore zu werfen. Auch die Beteiligung von Firmen an Berufsorientierungstagen in Schulen ist nicht wirklich bedenklich. Aber die Einbindung privatwirtschaftlicher Angebote in den Regelunterricht halte ich für ein Problem. Die Schule ist ein neutraler Bildungs- und Sozialisationsraum, den es zu respektieren gilt.
- E&W: Sind Unternehmen an bestimmten Schulformen und in bestimmten Regionen besonders präsent?
Engartner: Natürlich stürzen sich die Unternehmen in erster Linie auf die kaufkräftige Klientel der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Firmen sind besonders aktiv an den Unternehmensstandorten, sie engagieren sich bevorzugt im Rhein-Main-Gebiet, im Südwesten und in Nordrhein-Westfalen – und weniger in den strukturschwachen Regionen. Da gibt es tatsächlich eine Ungleichverteilung.
- E&W: Was sagen Schul- und Kultusministerien zu den Lobby-Materialien?
Engartner: Das hat mehrere Facetten. Zum einen gibt es diejenigen in den Ministerien, die den Materialien mit Grußworten Glaubwürdigkeit verleihen. Andere nehmen sie billigend zur Kenntnis, sehen darin eine Bereicherung des vermeintlich lebensfremden oder jedenfalls lebensfernen Schulalltags. Und dann gibt es die Gruppe derer, die ihren wachen Blick auf didaktisch desaströse und thematisch selektive Unterrichtsmaterialien richten. So hat etwa das Land Hessen per Erlass untersagt, ein Schulbuch des „Network for Teaching Entrepreneurship“ zu verwenden.
- E&W: Es gibt in Ministerien ja auch die Haltung: Unsere Lehrkräfte sind kompetent genug, um Lehrmaterialien von Unternehmen zu beurteilen. Klingt doch plausibel.
Engartner: Ich bin da skeptisch. Erstens, weil im Studium kaum vermittelt wird, was sich hinter dieser lobbyistisch motivierten Einflussnahme verbirgt. Zweitens, weil wir einen extrem hohen Anteil an fachfremden Lehrkräften haben, gerade in den sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfächern. Das dritte Argument zielt auf die von Lehrerinnen und Lehrern immer wieder als zu knapp wahrgenommene Zeit für die Unterrichtsvor- und -nachbereitung.
- E&W: Was fordern Sie, damit fragwürdige Lehr- und Lernmaterialien künftig nicht mehr in die Klassenzimmer gelangen?
Engartner: Ich denke, es braucht keine Materialien von privaten Akteuren. Wenn man dieser Forderung aber nicht nachkommt, dann sollten diese Materialien nicht anders behandelt werden als die, die Schulbuchverlage auflegen. 13 von 16 Bundesländern prüfen ja bereits die Schulbücher. Dieser Prüfmechanismus sollte bundesweit auch bei Materialien privater Content-Anbieter greifen.
- E&W: Der Verbraucherzentrale Bundesverband bietet seit September 2019 wieder den Materialkompass an. Das heißt, kostenlose Unterrichtsmaterialien werden durch Fachleute geprüft, die Ergebnisse stehen für jeden nutzbar im Internet. Was sagen Sie dazu?
Engartner: Der Materialkompass ist das, was man brauchte, wenn man eine Prüfstelle etablieren wollte. Dessen Team macht einen tollen Job. Allerdings wurde der Materialkompass zwischenzeitlich mangels Finanzierungsmöglichkeiten ausgesetzt. Das lässt erkennen, dass er politischen Großwetterlagen ausgesetzt ist. Eine Prüfstelle müsste aber auf Dauer gestellt und besser finanziert sein, um dauerhaft alle kursierenden Materialien zu erfassen.