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Grundbildung

Blockaden und Vermeidungsstrategien

Wenn Schülerinnen und Schüler große Probleme beim Lesen und Textverständnis haben, wird dies an beruflichen Schulen häufig nicht erkannt. Für Diagnostik und gezielte Förderung fehlen Ressourcen und häufig auch das Fachwissen.

Uta Sperling schult Lehrkräfte, den Fachwortschatz mit Hilfe von Wortkarten zu trainieren oder Fachtexte in leichte Sprache zu übersetzen. (Foto: Babette Brandenburg)

Eigene Sätze zu formulieren, Fachbegriffe von der Tafel abzuschreiben oder kurze Texte zu verstehen und zusammenzufassen: In den Klassen einzelner Berufszweige scheitert „eine Handvoll Schüler“ bereits an Aufgaben wie diesen, berichtet Uta Sperling, Sprachbeauftragte an der Beruflichen Schule für Bautechnik in Hamburg. Solche Probleme beobachten Lehrkräfte nicht nur bei zugewanderten Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei jenen, die das deutsche Bildungssystem durchlaufen haben – und dennoch lediglich über die Lese- und Schreibkompetenz von Zweit- und Drittklässlern verfügen.

Laut der aktuellen Grundbildungsstudie LEO (Level-One) können in Deutschland 6,2 Millionen Erwachsene nicht ausreichend lesen und schreiben. Sie werden als „funktionale Analphabeten“ oder als „gering literalisiert“ bezeichnet. 6,5 Prozent der Betroffenen sind in einer Ausbildung. „Zählt man diejenigen hinzu, die nur fehlerhaft schreiben können, aber noch nicht zu den funktionalen Analphabeten gezählt werden, sind weitere 10 Prozent der Auszubildenden betroffen“, so Dietmar Heisler, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Paderborn. Er geht davon aus, dass „in jeder Berufsschulklasse mindestens zwei funktionale Analphabeten sitzen, in Berufsvorbereitungsklassen möglicherweise sogar mehr“.

„Auch wenn der Fachunterricht sprachsensibel gestaltet ist, können gering literalisierte Schüler oft kaum folgen.“ (Ursula Baxmann)

Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen sehen sich vermehrt mit sprachlichen Problemen ihrer Schüler konfrontiert. Um die Sprachkompetenz zu stärken, haben viele Bundesländer in ihren Lehrplänen einen sprachsensiblen Fachunterricht verankert. Auch in Hamburg sind Lehrkräfte der berufsbildenden Schulen verpflichtet, „in sämtlichen Unterrichtsfächern grundsätzlich den Umgang mit der deutschen Sprache“ zu fördern, so eine Sprecherin der Bildungsbehörde. Sprachbildungsbeauftragte Sperling schult ihre Kolleginnen und Kollegen, den Fachwortschatz mit Hilfe von Wortkarten zu trainieren oder Fachtexte in leichte Sprache zu übersetzen. In Klassenarbeiten lasse sie die Schüler „nur wenig erklären“, so die Pädagogin, sondern biete „Satzbausteine als Geländer an“.

„Auch wenn der Fachunterricht sprachsensibel gestaltet ist, können gering literalisierte Schüler oft kaum folgen“, sagt Ursula Baxmann, am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung zuständig für Sprachbildung in der beruflichen Bildung. Sie erlebt die Lehrkräfte als sehr engagiert, doch „der integrierte Ansatz allein ist bei dieser speziellen Problemstellung nicht ausreichend“. Im klassischen Förderinstrument der „ausbildungsbegleitenden Hilfen“ (abH) kann ebenfalls nur sehr begrenzt auf die Bedarfe gering literalisierter Schüler eingegangen werden. Denn in den Maßnahmen externer Bildungsträger steht die Vermittlung von Fachtheorie im Vordergrund.

„Funktionale Analphabeten haben die unterschiedlichsten Biografien und negativen Lernerfahrungen.“ (Ilka Koppel)

„Grundbildung können wir nicht leisten“, bestätigt Gesa Lütz, Teamleitung abH beim Grone Netzwerk Hamburg. Wird dem Auszubildenden eine Lese- und Rechtschreibschwäche, ADHS oder ähnliches attestiert, kann bei der zuständigen Kammer ein Nachteilsausgleich beantragt werden. Je nach Einschränkung werden mehr Prüfungszeit, eine mündliche Prüfung oder das Vorlesen der Aufgaben gewährt. Für gering Literalisierte gilt dies jedoch nicht.

Als grundsätzlich problematisch sieht Ilka Koppel, Juniorprofessorin an der PH Weingarten, das häufig fehlende Fachwissen an beruflichen Schulen. „Funktionale Analphabeten haben die unterschiedlichsten Biografien und negativen Lernerfahrungen“, so die Erziehungswissenschaftlerin. Charakteristisch für die Betroffenen seien Scham, geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Lernhemmungen. „Lehrkräfte sind jedoch nicht dafür ausgebildet, die häufig sozialpsychologisch begründeten Ursachen zu erkennen und damit umzugehen.“

„Persönliche Lebensumstände wie Konflikte, Krisen oder Erkrankungen können individuelle Bildungsbiografien ab dem Grundschulalter nachhaltig beeinflussen.“ (Marie Wilkens)

Jahrzehntelange Erfahrungen mit funktionalem Analphabetismus haben hingegen die Lehrkräfte an den
Grundbildungszentren der Volkshochschulen. „Persönliche Lebensumstände wie Konflikte, Krisen oder Erkrankungen können individuelle Bildungsbiografien ab dem Grundschulalter nachhaltig beeinflussen“, berichtet Marie Wilkens (Name von der Redaktion geändert), Sozialpädagogin und Lehrkraft für Alphabetisierung und Grundbildung. Aufgrund ihrer psychosozialen Belastung gingen diese Kinder und Jugendlichen nur noch unregelmäßig zur Schule und könnten sich nicht mehr ausreichend auf den Lernstoff konzentrieren. So bauten sich „Blockaden und Vermeidungsstrategien“ auf – dies gelte es gemeinsam zu bearbeiten.

In einem innovativen Projekt hat Wilkens zehn Jahre lang an einem nordrhein-westfälischen Berufskolleg eine individuelle Lese- und Schreibförderung in Kleingruppen mit maximal zwei Auszubildenden angeboten. Doch trotz einiger Erfolge ließen Curriculum, Stundenplan und personelle Ausstattung zu wenig Raum. Auch Jan-Peter Kalisch vom Bundesverband Alphabetisierung bezweifelt, dass betroffene Schülerinnen und Schüler im System Schule, „wo aufbauend gearbeitet und ein jeweils definierter Kenntnisstand vorausgesetzt wird“, bis dahin fehlende Kenntnisse aufholen können. Er empfiehlt daher den Besuch von Grundbildungskursen an den Volkshochschulen. „Hier ist individualisiertes Lernen möglich – ohne Druck durch Lehrpläne“, so Kalisch. Doch bisher findet weniger als 1 Prozent aller Betroffenen den Weg in Lese- und Schreibkurse.