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Heterogenität in Bildungseinrichtungen

Blinde Flecken im Geschichtsunterricht

„Das postkoloniale Klassenzimmer“ heißt die neue Publikation von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. E&W sprach mit dem Autor Mark Terkessidis.

Die Publikation „Das postkoloniale Klassenzimmer“ erzählt Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. (Foto: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage)
  • E&W: In deutschen Schulklassen stammen viele -Kinder und Jugendliche oder deren Eltern aus der Türkei, aus Syrien, Polen, Äthiopien oder aus anderen Ländern. Warum ist es wichtig, diese biografischen Bezüge im Fach Geschichte aufzugreifen?

Mark Terkessidis: Primär ist es so, dass Geschichte in der Schule erzählt wird, als seien Deutschland und Europa der Mittelpunkt der Welt. Wenn die Klassen sich aber aus Kindern und Jugendlichen verschiedener Herkunft zusammensetzen, dann sollten auch unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt werden. Die Menschheit hat nicht überall die gleiche Antike und das gleiche Mittel-alter erlebt.

  • E&W: Angenommen, im Unterricht wird die Geschichte Afghanistans oder Kurdistans behandelt. Dann berührt die Lehrkraft schnell Gewalt-erfahrungen, die Schülerinnen und Schüler aus diesen Ländern oder deren Familienangehörige gemacht haben. Sind Lehrkräfte darauf vorbereitet?

Terkessidis: Solche Erfahrungen und Konflikte sind eigentlich im Unterricht nicht vorgesehen. Wenn ich Geschichte aber multiperspektivisch und postkolonial erzähle, dann erzähle ich sie per se als Konflikt. Und das Problem stellt sich ja immer mehr: Wie gehe ich denn jetzt mit dem Ukraine-Krieg um? Lehrkräfte brauchen nicht nur Flexibilität, was Zugänge und Sichtweisen betrifft, sondern auch Moderations-Skills. Das muss viel mehr in der Ausbildung vorkommen.

  • E&W: Sie verweisen auf blinde Flecken in der -Erinnerungskultur. Was meinen Sie damit, etwa mit Blick auf Polen?

Terkessidis: Nach den polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert gehörten Gebiete, die hauptsächlich polnischsprachig waren, über 120 Jahre zu Preußen oder dem Deutschen Reich. Warum nennen wir das nicht kolonial? Der deutsche Imperialismus war nicht nur auf Übersee konzentriert, sondern ab 1911 maßgeblich ein kontinentales Projekt in Richtung Osten und Südosten.

  • E&W: Wenn im Unterricht die gewaltsame Eroberung und Ausbeutung Südamerikas behandelt wird, ist zumeist von spanischen „Konquistadoren“ die Rede. Das reiche nicht, sagen Sie. Warum?

Terkessidis: Ich erinnere mich, wie bei uns im Unterricht positiv über die Kaufmannsfamilien der Fugger und Welser aus Augsburg gesprochen wurde. Dass die Welser aber fast 30 Jahre als Kolonisatoren in Venezuela waren, ist praktisch überhaupt nicht bekannt. Sie haben dort gewaltsame Expeditionen unternommen, Menschen zu Sklaven gemacht. „Spanische Konquistadoren“ klingt, als hätten „wir“ damit nichts zu tun. Wenn wir heute über unsere Privilegien im Westen sprechen, dann können wir nicht so tun, als hätten die erzwungene Arbeit von damals, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder die Verschleppung von Menschen nicht zu diesen Privilegien beigetragen. All das hat die Entwicklung der mächtigen Nationen Europas ab dem späten 15. Jahrhundert erst ermöglicht. Kinder und Jugendliche wollen doch verstehen, warum die Welt so ist, wie sie heute ist.

  • E&W: Erlauben die Lehrpläne der Bundesländer, all diese Themen angemessen zu behandeln?

Terkessidis: In fast allen Lehrplänen ist inzwischen davon die Rede, dass die europäische und globale Verflechtung von der Lebenswirklichkeit der Lernenden aus thematisiert werden soll. Bravo! Wenn es konkret wird, dann sieht es anders aus: Geschichte heißt griechische und römische Antike, christliches Mittelalter, Absolutismus, französische Revolution, deutsche Nation. Da gibt es noch einiges zu tun. 

„Geschichte wird in der Schule erzählt, als seien Deutschland und Europa der Mittelpunkt der Welt. Die Menschheit hat nicht überall die gleiche Antike und das gleiche Mittelalter erlebt.“ (Mark Terkessidis / Foto: Andreas Langen)