Startchancen-Programm
Bisher null Cent
Das im vergangenen Jahr gestartete Startchancen-Programm soll für mehr Chancengleichheit sorgen. An den Schulen kommt das Programm nur langsam in Gang, wie das Beispiel der Lutherschule in Bremerhaven-Lehe zeigt.
Eines Tages soll es an der Lutherschule in Bremerhaven-Lehe, einer Grundschule in einem der ärmsten Stadtteile Deutschlands, sogenannte Lernwaben geben, Rückzugsorte im Schulflur, in denen sich Kinder auf sich selbst konzentrieren können. In den Pausen soll Spielzeug ausgegeben werden, etwa Roller, Fahrräder oder Bälle. Außerdem soll in jedem Klassenzimmer ein Grundstock an Lernmaterial wie Pappbuchstaben oder weiche Würfel für Mathe-Übungen vorrätig sein. Und alle paar Wochen könnten sich die Eltern an der Schule in einem Elternraum zum Eltern-Café treffen. Eine Schulpsychologin soll es hier künftig auch geben.
Noch aber ist es nicht soweit. Die Stimmung der Rektorin Julia Trost und der Konrektorin Birgit Kühne ist angespannt. Die beiden Lehrerinnen sitzen im Besprechungsraum der Schule und sammeln Vorschläge für das Startchancen-Programm. Die Einarbeitung in das bürokratische Prozedere war zeitaufwendig. Auch mehr als ein halbes Jahr nach Beginn des Programms können die beiden Schulleiterinnen keine Resultate vorweisen. Kein Cent ist bisher geflossen. Zwar sind die Toiletten und Schulräume saniert. Kein Schimmel, keine kaputten Türangeln wie in anderen Schulen. Aber ein großer Bedarf nach Verbesserung ist trotzdem da.
„Natürlich ist es besser als nichts, aber wir hatten uns das ganz anders vorgestellt. Wir haben gedacht, dass wir mehr freie Hand hätten.“ (Birgit Kühne)
In Kühnes Händen liegt ein dickes Heft mit der Anleitung für die Beantragung der Maßnahmen aus dem Startchancen-Programm. Kühne und Trost haben keine zusätzlichen Stunden oder Personal bekommen, um sich einzuarbeiten. Dabei wird ihnen viel versprochen. Die Lutherschule bekommt pro Jahr etwa 100.000 Euro zusätzlich – wenn alles klappt. Einige Maßnahmen peilen die beiden Schulleiterinnen jetzt wenigstens zum zweiten Schulhalbjahr an. „Natürlich ist es besser als nichts, aber wir hatten uns das ganz anders vorgestellt. Wir haben gedacht, dass wir mehr freie Hand hätten. Dass wir selbst entscheiden dürften, was wir wofür aufwenden. Jetzt gibt es doch eine relativ festgeschriebene Reglementierung“, bedauert Kühne.
„Mich drücken die baulichen Fragen“, sagt Trost. „Denn wir werden immer mehr mit Klassen zubelegt, weil es so hohe Schülerzahlen gibt. Und das, was wir den ganzen Tag brauchen, diese Räume für andere Angebote, für die Entzerrung von Gruppen, was dieser Standort braucht, das haben wir nicht mehr.“ Über 300 Kinder lernen zurzeit an der Lutherschule. „Wir waren vorher dreizügig, jetzt sind wir fast komplett vierzügig. Die Schülerzahlen steigen auch in den nächsten Jahren. Wir gehen davon aus, dass man uns noch mehr Klassen aufdrücken wird“, sieht Kühne voraus.
20 Prozent mehr Schülerinnen und Schüler
Schulleiterin Trost deutet aus dem Fenster auf den Schulhof. „Da unten steht der Fahrradschuppen. Er ist so ausgelegt, dass man da was draufsetzen könnte. Das würde von der Größe her einem wirklich guten Klassenraum entsprechen. Da hätten wir alles, was eine Klasse braucht – einen wunderbaren Schulraum, eine Garderobe, eine eigene Toilette.“ Wenn zwei Stockwerke auf den Fahrradschuppen gesetzt würden, kämen sogar zwei neue Klassenräume zustande. „Dadurch würden wieder zwei Funktionsräume frei, die wir zuletzt notgedrungen in Klassenräume umgewandelt haben.“
Dann könnten sich die pädagogischen Fachkräfte auch außerhalb des Unterrichts besser um die Kinder kümmern. „Wir haben Kinder, die zu Hause nicht gehört werden. Weil die Familien so groß sind. Oder weil die Eltern gerade mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind und die Kinder nebenherlaufen“, erläutert Trost. So ein Neubau würde aus einem anderen Topf finanziert werden müssen, der eventuell im Rahmen der „gebundenen“ (verpflichtenden) Ganztagsbetreuung ab 2026 vorhanden ist. „Vom Startchancen-Programm-Etat finanzieren wir dann die Innenausstattung, das ist der Plan.“
„Manche Kinder kommen an die Schule und sprechen kein Wort Deutsch.“ (Julia Trost)
In Deutschland stieg die Zahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen im Schuljahr 2023/2024 gegenüber dem Schuljahr 2022/2023 um 1,3 Prozent. An der Lutherschule erhöhte sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den vergangenen Jahren um 20 Prozent. 29 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben einen Migrationshintergrund – an der Lutherschule sind es 90 Prozent. „Manche Kinder kommen an die Schule und sprechen kein Wort Deutsch“, sagt Schulleiterin Trost. Oft werde von den Eltern bei der Anmeldung angegeben, das Kind habe eine Kita besucht, was aber häufig nicht der Wahrheit entspreche. Die Fähigkeiten der Kinder variierten teilweise sehr stark. Auf diese Unterschiede müssten die Lehrerinnen und Lehrer eingehen. Und das entsprechende Unterrichtsmaterial müsse vorrätig sein.
Trost ist neben ihrem Schulleiterinnen-Job noch Klassenlehrerin einer 4. Klasse. „Früher hatte ich für ein Thema ein Arbeitsblatt – und noch eins in Reserve, das ein bisschen leichter war. Jetzt habe ich fünf verschiedene Blätter für ein Thema. Und noch zwei weitere Angebote für die Kinder, die noch nicht so weit sind.“
Überbelegung und Kürzungen engen den Spielraum ein
Um die Nöte der Kinder aufzufangen, wollen die beiden Schulleiterinnen neben der Anstellung einer Schulpsychologin Lernwaben in den Schulfluren zur Entzerrung der Klassenräume aufstellen. Die sähen aus wie Bienenwaben oder wie größere Strandkörbe, sagt Trost. Bis zu 20 dieser Lernwabenschachteln sollen angeschafft werden. „Das kommt gut bei den Kindern an. Es sind Rückzugsmöglichkeiten. Danach sehnen sich einige Kinder.“ Aber noch müssen die Schulleiterinnen dafür Kostenvoranschläge einholen. Eine Lernwabe kostet zwischen 2.000 und 4.000 Euro.
Überbelegung und Kürzungen engten den Spielraum an der Lutherschule in den vergangenen Jahren immer mehr ein, sagt Kühne. „Früher konnten wir noch ein Fahrradtraining anbieten. Die Kolleginnen und Kollegen gingen dann mit ein paar Kindern in die Turnhalle.“ Aufgrund der gestiegenen Zahl der Schülerinnen und Schüler ist die Turnhalle jetzt aber immer belegt, sodass Fahrradstunden nur noch im Sommer möglich sind. Wichtig ist Trost auch das Programm „Mama lernt Deutsch“: „Das wurde total gut angenommen, weil dann für die Mütter eine Betreuung der jüngeren Kinder möglich war. Sie konnten die deutsche Sprache lernen, sodass sie im Alltag zurechtgekommen sind, ohne dass ein älteres Kind übersetzt hat.“ Doch das Programm wurde in Bremen eingestellt.
Alle 43 Bremer und Bremerhavener Schulen im Startchancen-Programm erhielten Plaketten, die nun in den Eingangsbereichen hängen. Diese seien ziemlich unauffällig und klein ausgefallen, finden die beiden Schulleiterinnen. „Aber ich möchte ohnehin mit der Arbeit überzeugen und nicht über Plaketten“, so Schulleiterin Trost.
Noch ist die Ausbeute im Rahmen des Startchancen-Programms für die Lutherschule gleich null. Immerhin wird die neue Schulmaterialgrundausstattung für jeden Klassenraum noch in diesem Schuljahr eingekauft. Außerdem startet im Mai eine Kunstpädagogin aus der Bremer Kunsthalle mit ihrer Arbeit. Sie wird aus dem Budget des Startchancen-Programms bezahlt und arbeitet mit Klassen der 2. Jahrgangsstufe. Welche Art Kunst die Kinder produzieren, dürfen sie dann selbst entscheiden.