Flüchtlingsbewegung trifft arabische Länder besonders hart
Die internationale Konferenz war durchzogen von der Sorge um die Bewältigung der Herausforderungen, die die große Zahl an Flüchtlingen für die Schulen mit sich gebracht hat. Das betrifft nicht nur den Libanon und Jordanien, allein 600.000 geflüchtete Kinder mit unterrichtet werden und damit 50 Prozent der gesamten SchülerInnenschaft darstellen, sondern. Es betrifft auch die Flüchtlingsströme innerhalb des Iraks, wo der IS die Schulstrukturen zerstört hat. Neben materiellen gibt es auch gewaltige curriculare Probleme. Dazu kommen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung und Finanzierung qualifizierter Lehrkräfte – abgesehen von den Konflikten, die beim Zusammentreffen so unterschiedlicher Schulkulturen wie denen Syriens und des Libanon mit sich bringen. Die Länder und ihre Bildungssysteme stünden vor dem Kollaps, berichteten die angereisten GewerkschafterInnen. In dieser Krisensituation zeige sich, dass die Curricula nicht flexibel und reflektiert angelegt seien, um die notwendige Empathie, Toleranz und religiöse Liberalität zu vermitteln. "Wie kann Integration da gelingen?", fragte eine Kollegin. Man müsse auch die privaten Akteure im Auge behalten und bedenken, dass die Flüchtlingskinder ihr Schulleben lang Flüchtlinge bleiben würden. Schließlich seien Lehrergewerkschafter in arabischen Ländern oft besonderen Repressionen ausgesetzt. Einige Gewerkschafter hatten erst gar keine Einreiseerlaubnis zu der Konferenz erhalten.
Vom 29.11. – 1.12.2016 waren VertreterInnen von Bildungsgewerkschaften der Arab Countries Cross Regional Structure (ACCRS) aus der Bildungsinternationale (BI) in Kuwait zusammengekommen, um unter dem Motto "Bildung für die Gestaltung unserer Gesellschaften und unserer Zukunft" zu diskutieren. Die BI ist Dachverband von 400 Bildungsgewerkschaften mit rund 32 Millionen Mitgliedern weltweit, dem auch die GEW angehört. ACCRS bezeichnet eine Unter-Organisation der BI für die arabischen Länder. Diese Bildungsgewerkschaften verbindet nicht nur die gemeinsame Sprache und manche kulturelle Gewohnheit, sondern vor allem die soziale Krise in ihrer Region, die die Erziehungsarbeit unmittelbar betrifft. An der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz nahmen 66 Delegierte aus Algerien, Bahrain, Ägypten, Irak, Jordanien, Kuwait, Libanon, Mauretanien, Marokko, Palästina, Somalia, Tunesien und Jemen teil. In Saudi-Arabien und Katar sind Gewerkschaften verboten. Für die KollegInnen aus Syrien, Jemen, Sudan oder Libyen war eine Teilnahme ohnehin nicht möglich. Neben Vertretern der BI-Zentrale in Brüssel waren auch einige Gäste aus westeuropäischen Ländern mit dabei.
Mängel in arabischen Bildungssystemen
Das alles vor dem Hintergrund ohnehin problematischer Entwicklungen, wie sie der BI-Generalsekretär Fred van Leeuwen zur Eröffnung der Tagung schilderte: die Islamisierung des Erziehungs- und Schulsystems, die Tendenzen zur Privatisierung und Ökonomisierung der Bildung, die Infragestellung von Freiheits- und Menschenrechten. Prof. Badr Al Omar von der Kuwait-University verwies auf die Mängel der arabischen Bildungssysteme, vor allem in der Praxis, denn geredet und theoretisch gearbeitet werde auch dort genug. Er beklagte das generell niedrige intellektuelle Niveau in den Schulen, die ungenügende Ausbildung der LehrerInnen und ihre geringen pädagogischen Spielräume. Man sei auf Schulabschlüsse und oft fremdbestimmte Inhalte fixiert, statt Bildungsstandards und -inhalte aus eigenen arabischen Identitäten und Anforderungen zu entwickeln. Grundlegende analytische Methodiken und Konzepte seien in der arabischen Welt überhaupt nicht vorhanden. Ein neuer arabischer Frühling sei vonnöten.
Keine gute Bildung ohne Freiheit
Die TeilnehmerInnen wussten Ähnliches zu berichten. Undurchsichtige Strukturen führten dazu, dass Gewerkschaften keine Ansprechpartner in Schulverwaltungen und Bildungsministerien fänden, wo häufig auch kein politischer Gestaltungswille vorhanden sei. Es fehlten aber auch Partner in der Zivilgesellschaft. Bildung könne sich ohne Freiheit nicht entfalten. Daran mangele es überall. Öffentliche Bildung sei grundsätzlich durch kapitalistische Strukturen gefährdet, die durch internationale Institutionen wie Weltbank und IWF befördert werden und sich in der Privatisierung des Bildungssektors manifestierten. Es zeigte sich ein gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich der aufgeworfenen Frage, was denn daraus für Konsequenzen zu ziehen seien: "Wir wissen nicht, wie wir uns entwickeln sollen – auch nicht im Bereich der Bildung. Obwohl wir so viele Ressourcen haben. Warum entwickeln sich Hongkong, Taiwan und Singapur, aber wir nicht? Wir Araber sind gut im Schönreden!", skandalisierte ein Kollege.
Plädoyer für Bildung als Menschenrecht
BI-Vizepräsident Mugwena Maluleke (Südafrika) und die stellvertretende BI-Generalsekretärin Haldis Holst (Norwegen) erläuterten die Strategie der Weltorganisation hinsichtlich der Gewährleistung der Rechte von Migranten und Flüchtlingen, wie sie in der BI-Grundsatzerklärung zum Ausdruck kommt. Diese enthält ein Plädoyer für das Recht auf Bildung für alle Schülerinnen und Schüler, und zwar nicht als Bürgerrecht eines Staates, sondern als universelles Recht, das jedem Menschen überall zustehe. Und es müsse auch verteidigt und gefördert werden, dass die Kompetenz geflüchteter Lehrer genutzt werde, so Haldis Holst. Gleichzeitig wolle die BI gewährleistet sehen, dass gerade unter den momentan schwierigen Bedingungen eine diverse, offene, demokratische, multikulturelle und inklusive Erziehung angestrebt werden müsse. Eigentlich auch eine Internationalisierung der Bildung. Die BI setze sich besonders für ein „Teaching training for the teachers for refugees“ ein, so die Generalsekretärin.
UN-Nachhaltigkeitsziele als Hebel für politisches Handeln
Die BI hat Untersuchungen über Privatisierungen im Bildungswesen von fünf exemplarischen Ländern angestellt (Philippinen, Indien, Uganda, Kenia, Libanon) und bietet den Bildungsgewerkschaften ihre Hilfe an, Strategien zur Verteidigung des öffentlichen Bildungswesens in der jeweiligen Region zu entwickeln. Ein weiterer Schwerpunkt der BI-Strategie gerade auch für die arabischen Länder ist Geschlechtergleichheit (gender equality). Die BI sieht einen zentralen Ansatzpunkt für die strategischen Auseinandersetzungen im globalen und nationalen Maßstab in der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (in Fortschreibung der Milleniumsziele von 2000 bis 2015). In dem vierten von 17 Zielen werden die Bildungsziele formuliert. Antonia Wulf (BI) erläuterte, wie auch die arabischen Lehrergewerkschaften dies als Hebel für ihre Arbeit nutzen könnten. Das erforderte Prioritäten zu setzen, die nach der Analyse des Ist-Zustandes erfolgen müsse. Wichtig sei auch eine Zusammenarbeit der Gewerkschaften der Region. Die Bildungsgewerkschaften könnten mehr Einfluss gewinnen, wenn sie die von den Regierungen regelmäßig vorzulegenden Berichte kritisch begleiteten, wobei die BI sie unterstützen werde.