Armut in der Grundschule
„Bildungsarmut“ entwickelt sich schleichend
Warum (nicht) nur mehr Geld gegen Armut hilft – Beobachtungen aus dem Grundschulalltag.
Waldausflug am Schulvormittag, knapp zehn Minuten ist die 1. Klasse unterwegs. Etwa 500 Meter haben die Kinder im feucht-frischen Klima zurückgelegt, als Leonardo stöhnt: „Puh, Herr Wolters, wie lange noch? So viel bin ich noch nie gelaufen!“ Dabei nimmt er erschöpft seine Cap ab und wischt sich über die Stirn. Nun fällt beim leicht übergewichtigen, aber nicht adipösen Leonardo auf: Seine Haare sind trotz kühler Waldluft und nur wenigen Minuten Fußweg nassgeschwitzt.
Thea (2. Klasse) steht am Abfalleimer und spitzt ihren Bleistift an – sie sollte eigentlich mit Blau unterstreichen, aber die Farbe hat sie nicht. Während sich das Mädchen um den Bleistift als Notlösung kümmert, läuft der Unterricht weiter. Kaum sitzt Thea an ihrem Platz und unterstreicht, bricht der Stift erneut ab und sie muss sich wieder zum Anspitzen begeben.
Marius (3. Klasse) fehlen (mal wieder) einige Schulmaterialien und vor allem das Frühstück. Auf Nachfrage erklärt er schließlich etwas hilflos, seine Eltern hätten momentan kaum Geld. Erst übermorgen (Monatsanfang) sei wieder Geld da. Dann würden alle bei „Kiosk Bauer“ einkaufen.
Die Kinder aus Julias 4. Klasse übernachten auf dem Bauernhof einer Mitschülerin. Kosten entstehen keine, nur An- und Abfahrt sind selbst zu organisieren. Ferner wird eine Spende für Abendessen und Frühstück erbeten. Trotz mehrfacher telefonischer und persönlicher Gespräche mit Mutter und Tochter (die gern dabei wäre), liegt bis zur Übernachtung keine schriftliche Erklärung über die Teilnahme vor. Einige Eltern wollten Julia sogar abholen und anschließend wieder nach Hause bringen. Auch auf die Spende hätte verzichtet werden können. Die Mutter reagiert auf die Angebote jedoch nicht. Julia kann nicht teilnehmen.
Armutsrisikoquote um rund ein Drittel gestiegen
Diese Beispiele aus der Grundschule belegen die vielschichtigen Auswirkungen von Armut. Dabei ist das Phänomen „Armut in der Grundschule“ nicht neu, erhält aber durch die aktuellen Entwicklungen (etwa steigende Preise und Mieten, unsichere Beschäftigungsverhältnisse) neue Brisanz.
Das Statistische Bundesamt ermittelte für 2021 eine Armutsgefährdungsquote von 15,8 Prozent, wegen methodischer Unterschiede gibt der Paritätische Gesamtverband den Wert mit 16,6 Prozent etwas höher an. Unabhängig davon ist der Trend besonders problematisch: So lag die Armutsrisikoquote 1998 bei 12,1 Prozent und ist demzufolge in gut zwei Jahrzehnten um rund ein Drittel gestiegen!
Die Politik versucht aktuell, der Entwicklung mit verschiedenen Maßnahmen mehr oder weniger zielgerichtet zu begegnen – von Energiekostenzuschüssen über Tankrabatte, Strom- und Gaspreisbremsen bis zu Steuersenkungen. Allerdings wird immer wieder betont: Der Staat könne nicht alle Kostensteigerungen kompensieren. Dies ist grundsätzlich richtig, verkennt aber die enorme Brisanz steigender Lebenshaltungskosten für arme Familien.
„Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“ (Jochen Brühl)
Die Folgen unzureichender und vielfach fehlgeleiteter staatlicher Kostendämpfungsmaßnahmen zeigen sich unter anderem bei den Ausgabestellen der Tafeln, die ihrerseits den Ansturm nicht überall bewältigen können. Etwa ein Drittel der Tafeln hat inzwischen einen Aufnahmestopp verhängt, weil ein ehrenamtliches Unterstützungsangebot für viele Betroffene zur Regelleistung geworden ist: „Es ist verantwortungslos, wenn Behörden Menschen zu einer Tafel schicken, ohne sich überhaupt zu erkundigen, ob die Tafel neue Kundinnen und Kunden aufnehmen kann“, erklärt Jochen Brühl, Vorsitzender des Tafel Deutschland e. V. „Wir helfen, so viel wir können, aber bleiben ein Zusatzangebot. Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“
Schmerzhafter sind Diffamierungen und Stigmatisierungen
Armut ist allerdings nicht nur ein Mangel an finanziellen Mitteln, sondern umfasst viele Ebenen fehlender Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei geht es weniger um absolute Armut, sondern vielmehr um Entbehrungen, Ausschlüsse und Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen Lebensstandard. Schmerzhafter als materielle Einschränkungen können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen auswirken.
Die eingangs geschilderten Beispiele zeigen: Theas Eltern haben nicht viel Geld und kaufen günstige Schulmaterialien, die leider qualitativ nicht gut sind. Folge: Fällt ein Bleistift herunter, bricht die Mine im Stift und viele Anspitzversuche sind zum Scheitern verurteilt. Somit verpasst das Mädchen immer wieder Unterricht – schleichend entwickelt sich „Bildungsarmut“.
Leonardo war nach eigener Aussage noch nie im Wald – obwohl er auf dem Land wohnt – und sein junger Körper ist zehn Minuten Fußweg offenbar nicht gewohnt.
Bei Julia hätte es für die Übernachtung eine rasche Lösung geben können. Selbst die Transportfrage wäre geklärt gewesen, es war aber der Mutter nicht möglich, die eigene Hilfsbedürftigkeit zu äußern bzw. Kontakt zu anderen Eltern herzustellen, um notwendige Absprachen (ohne finanzielle Verpflichtungen!) zu treffen.
Marius‘ Familie ist seit mehreren Generationen beim Jugendamt, Sozialamt und anderen sozialen Diensten „aktenkundig“ – schon die Großeltern bezogen verschiedene soziale Unterstützungsleistungen. Ein Einkauf im Supermarkt oder Discounter heutiger Größe überfordert alle in der Familie. Weder Kinder noch Eltern oder Großeltern haben gelernt, sich in einem Verbrauchermarkt zurecht zu finden. Der Einkauf bei „Kiosk Bauer“ bietet die Sicherheit des Tante-Emma-Ladens von früher, allerdings sind die Preise der Waren höher.
Bürgergeld zu gering bemessen
Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut in der Grundschule müssen daher an mehreren Stellen ansetzen. So sind soziale Transferleistungen bedarfsorientiert auszugestalten. Dies kann durch eine Kindergrundsicherung, anrechnungsfreies Kindergeld, ein wirksames Bildungs- und Teilhabepaket oder ähnliche Instrumente erfolgen. Davon könnten zum Beispiel Thea und Julia profitieren. Das neu geschaffene Bürgergeld, das das Arbeitslosengeld II ersetzt hat, ist hierfür viel zu gering bemessen.
Bekämpfung der Armut in der Grundschule
Strategien gegen Kinderarmut müssen sich auf Maßnahmen konzentrieren, die Löhne und Gehälter so anheben, dass sie „armutsfest“ sind. Der Schulbesuch muss wirklich kostenfrei sein. Nicht nur die mehrere hundert Euro teuren Schulausstattungen überfordern viele Familien. Auch Mensaessen, Klassenfahrten, Umlagen für Kopierpapier oder Bastelmaterial schlagen heftig zu Buche. Erforderlich ist zudem eine echte und unbürokratische Lehr- und Lernmittelfreiheit für alle Kinder ohne gesonderte Antragstellung oder Bedürftigkeitsnachweis.
Familien, wie jene von Leonardo, Marius oder Julia brauchen persönliche Unterstützung, die über die Schule und deren Möglichkeiten hinausgeht. Ein Waldbesuch ist recht preisgünstig zu haben – vorausgesetzt, die Familie ist mobil. Die Eltern von Marius benötigen ein kleinschrittiges (Kennen-)Lernen des Selbstbedienungseinkaufs und der notwendigen Budgetplanung. Bei Julias Familie kann eine Begleitung der Eltern zu Elternabenden angezeigt sein, um Vorbehalte gegenüber anderen Familien abzubauen.
Ein leicht verständlicher und günstiger Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), wie beim 9-Euro-Ticket, geht in die richtige Richtung, auch weil es sich an alle Bürgerinnen und Bürger richtete und die Nutzung somit stigmatisierungsfrei war. Solch günstige „Flat-Rate-Modelle“ wären auch für Kulturangebote wichtig.
Um Armut in der Grundschule wirksam zu begegnen braucht es eine Reihe von Maßnahmen. Gegen Armut hilft allerdings nach wie vor vor allem eines: Geld – als armutsfester (Mindest-)Lohn, als bedarfsdeckende Transferleistung und zur Finanzierung sozialer Unterstützungsangebote, die bedarfsorientiert und niedrigschwellig ausgestaltet sein müssen.
* Die Namen der Schülerinnen und Schüler hat die Redaktion anonymisiert.