Zum Inhalt springen

Gobale Kampagne „100 Million“

„Bildung spielt eine sehr, sehr wichtige Rolle“

Den „Teufelskreis aus Bildungsferne, Armut und Kinderarbeit“ zu durchbrechen, fordert der indische Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi, Initiator der Kampagne „100 Million“. Ein Gespräch über Ursachenbekämpfung und Einflussmöglichkeiten.

Kailash Satyarthi / Foto: imago
  • E&W: Im November vorigen Jahres ist „100 Million“ in Deutschland gestartet. Verbinden Sie damit besondere Erwartungen?

Kailash Satyarthi: Ich habe mit Organisationen der deutschen Zivilgesellschaft schon erfolgreich zusammengearbeitet, besonders eng mit den Bildungsgewerkschaften. Umso größer ist meine Erwartung, dass die Deutschen, vor allem Lernende und Lehrende, eine führende Rolle im Kampf gegen Sklaverei und Kinderarbeit spielen, denen weltweit mehr als 100 Millionen junge Menschen ausgesetzt sind. Das ist ja die ganze Idee hinter der Kampagne, dass 100 Millionen besser gestellte Jugendliche zu Wortführern und Antreibern des Wandels werden für jene 100 Millionen Gleichaltrige, die im Stich gelassen worden sind.

  • E&W: Wie soll das gehen?

Satyarthi: Wir wollen ein Bewusstsein schaffen für Nöte, mit denen Kinder in anderen Weltteilen zu tun haben. Ich nenne das die „Globalisierung der Anteilnahme“. Junge Deutsche können dazu in verschiedener Weise beitragen. Sie können sich in Gruppen zusammenschließen, die sich mit Notlagen von Kindern im eigenen Land befassen, etwa von Flüchtlingskindern. Sie können aber auch die Politik auf globaler Ebene beeinflussen, indem sie Politiker und Parlamentarier in ihre Schulen einladen und zur Rede stellen. Ich hatte darüber einen vielversprechenden Gedankenaustausch mit dem deutschen Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU).

  • E&W: Müssen Politiker überhaupt noch überzeugt werden?

Satyarthi: Ich habe schon Politiker getroffen, die fanden, dass Kinderarbeit eine traurige ökonomische Realität sei, die wir nicht vollständig überwinden können. Wir könnten allenfalls die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen verbessern. Das habe ich vor 20, 30 Jahren sogar in Deutschland gehört, als ich hier die Verbraucherkampagne für kinderarbeitsfreie Teppiche startete. Mittlerweile hat sich die Wahrnehmung geändert. Was wir heute aber benötigen, ist ein konkreter, starker politischer Wille, der sich auch in Taten umsetzt – zum Beispiel durch Druck auf Unternehmen, denen es gleichgültig ist, ob sie irgendwo in ihrer Lieferkette mit Kinderarbeit zu tun haben. Hier könnten Politiker viel mehr bewirken.

  • E&W: Die Kampagne hat vor über zwei Jahren in Indien begonnen – mit welchen Ergebnissen bisher?

Satyarthi: In Indien lag der Schwerpunkt auf dem Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs – Vergewaltigungen von Jungen und Mädchen, die wie eine Epidemie um sich greifen. Im September 2017 haben wir einen Marsch quer durch das Land organisiert, an dem sich eine Million vor allem junge Menschen beteiligten. Die unmittelbare Folge war, dass sowohl das Bundesparlament als auch mehrere Landesparlamente neue Gesetze gegen Kindesmissbrauch verabschiedeten. Ein anderes Beispiel ist Schweden. Hier erhöhte die Regierung den finanziellen Beitrag zur „Globalen Partnerschaft für Bildung“ (GPE)** für die Jahre 2018 bis 2020 um 30 Prozent, nachdem die führenden Studierenden- und Lehrerverbände des Landes eine Dialogrunde mit politisch Verantwortlichen organisiert hatten. Bis dahin war die Rede davon gewesen, dass Schweden die GPE-Mittel kürzen wolle. Die Initiative von Studierenden und Lehrkräften hat eine politische Wende bewirkt.

  • E&W: Sie betonen die Bedeutung eines Bewusstseinswandels. Ist Kinderarbeit nicht eher eine Folge ökonomischen Zwangs?

Satyarthi: Kinderarbeit ist aus meiner Sicht sowohl Ursache als auch Folge der Armut. Jedes arbeitende Kind nimmt einem Erwachsenen den Job weg. Diese Erwachsenen aber sind, wie Studien in vielen Ländern zeigen, oft dieselben, die ihre Kinder arbeiten lassen. Die Eltern sind arbeitslos, weil ihre Beschäftigung höhere Kosten verursacht, während Kinderarbeit fast nichts oder, wenn sie unter sklavereiähnlichen Bedingungen stattfindet, überhaupt nichts kostet. Man kann Kinder problemlos ausbeuten, sie zwölf, 14, in vielen Fällen 18 Stunden am Tag arbeiten lassen. Kinder gründen keine Gewerkschaft, sie gehen nicht vor Gericht. So entsteht ein Teufelskreis. Weltweit sind 210 Millionen Erwachsene ohne Beschäftigung. Warum brauchen wir dann 152 Millionen Kinder, um deren Arbeit zu erledigen? Wir müssen diesen Teufelskreis aus Bildungsferne, Armut und Kinderarbeit durchbrechen.

„Wenn in einem Entwicklungsland jedes Kind auch nur ein Jahr zur Schule geht, erzeugt dies ein zusätzliches Wirtschaftswachstum um 0,34 Prozent.“

  • E&W: Wer trägt die Hauptverantwortung – Eltern, Kinderhändler, Unternehmen?

Satyarthi: Ich würde sagen, es gibt zwei Faktoren. Der treibende Faktor besteht aus Analphabetismus, Unwissenheit, Armut, Missachtung von Menschenrechten ebenso wie aus der Unfähigkeit, geltendes Recht vor Ort durchzusetzen. Und es gibt die Nachfrageseite. Das sind die „Arbeitsvermittler“, Menschenhändler, die erheblich von Kinderarbeit profitieren, und Unternehmen, die ihre Kosten in der Lieferkette verringern. Es kommt auch vor, dass Produzenten am Anfang der Lieferkette mit Kinderarbeit betrügerische Gewinne erzielen. Sie legen Papiere vor, aus denen hervorgehen soll, dass sie legale Löhne zahlen, was nicht der Fall ist, und berechnen ihre Preise entsprechend. So gelangt Schwarzgeld als Treibstoff von Korruption und Kriminalität in den Wirtschaftskreislauf.

  • E&W: Gibt es regionale Unterschiede im Vorkommen von Kinderarbeit, und was bedeutet es, wenn die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) davon spricht, dass 73 von 152 Millionen arbeitenden Kindern unter „schlimmsten“ Bedingungen beschäftigt sind?

Satyarthi: Die Unterscheidung zwischen „schlimmsten“ und anderen Bedingungen ist nützlich, um konkrete Situationen einzuschätzen. Abgesehen davon gibt es natürlich keine Entschuldigung für Kinderarbeit – unter welchen Bedingungen auch immer. Jedes arbeitende Kind ist auf Kosten eines arbeitslosen Erwachsenen beschäftigt, erfährt Missachtung seiner Menschenrechte und Verweigerung von Bildungschancen. Was die regionalen Unterschiede betrifft, ist die Situation in Afrika bisher sicher am schlimmsten, gefolgt von Südasien. Wir haben zwar manche Fortschritte erzielt, aber noch immer kommt Kinderarbeit unter schlimmsten Bedingungen wie im Allgemeinen zu häufig vor.

  • E&W: Gleichwohl sinken offenbar weltweit die Zahlen – warum?

Satyarthi: Seit etwa dem Jahr 2000 haben wir in der Tat einen Rückgang der Kinderarbeit erlebt. Das ist eine gute Nachricht, aber nicht genug. Ich würde diese Welt nicht als zivilisiert, sicher und frei bezeichnen, solange noch ein einziges Kind versklavt ist. Der Rückgang erklärt sich meiner Meinung nach durch verstärkte Anstrengungen, Bildung voranzubringen. Internationale Faktoren wie die Informationstechnologie spielen ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Nicht zuletzt verhalten sich Politik und Zivilgesellschaft viel, viel aktiver und verantwortungsbewusster als je zuvor. Im Übrigen zeigen Studien: Wenn in einem Entwicklungsland jedes Kind auch nur ein Jahr zur Schule geht, erzeugt dies ein zusätzliches Wirtschaftswachstum um 0,34 Prozent. Bildung spielt eine sehr, sehr wichtige Rolle.

  • E&W: Sehen Sie Defizite in der Gesetzgebung?

Satyarthi: Kinderarbeit ist nirgendwo erlaubt. In ihren schlimmsten Formen gilt sie als kriminelles Delikt. Aber es gibt Gesetzeslücken. Manche Länder kennen überhaupt keine gesetzlichen Regelungen. Meistens gibt es Gesetze, aber Mechanismen und Institutionen reichen nicht aus, um geltendes Recht durchzusetzen.

  • E&W: Würden Sie Regierungen und Behörden dennoch ein geschärftes Problembewusstsein bescheinigen?

Satyarthi: Ja, definitiv. Es ist enorm, und es stimmt mich sehr, sehr optimistisch. Wir haben seit etwa anderthalb Jahrzehnten eine bemerkenswerte Entwicklung erlebt. Es gibt heute mindestens 100 Millionen arbeitende Kinder weniger als früher. Früher war die Zahl steigend. Heute hat sie nicht nur aufgehört, weiter anzusteigen, sondern erheblich abgenommen.