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Coronakrise

Bildung im Zeichen der Pandemie

Die Kultusministerinnen und -minister halten trotz der steigenden Corona-Zahlen für Schulen und Kitas am Regelbetrieb in den Einrichtungen fest. Gesundheits- und Bildungsexperten sowie die GEW fordern dagegen eine andere Strategie.

Die Corona-Pandemie hat Deutschland nach wie vor im Griff. Ende Oktober verhängten Bund und Länder erneut einen Lockdown. Anders als noch im Frühjahr wurde diesmal allerdings die Wirtschaft nicht heruntergefahren, und auch Schulen und Kitas blieben geöffnet. Bis Ende November hatte sich der Anstieg bei den Infektionszahlen zwar verlangsamt, der erhoffte Rückgang blieb jedoch aus.

Vor allem in den Schulen stieg die Zahl der positiv getesteten Schülerinnen und Schüler. Mitte November befanden sich nach Angaben der Kultusministerkonferenz bereits mehr als 200.000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne. Das entsprach fast 2 Prozent aller Lernenden. Mit dem Corona-Virus infiziert hatten sich bis dahin mehr als 18.000 Schülerinnen und Schüler und damit rund 0,2 Prozent aller Kinder und Jugendlichen an den Schulen. Bei den Lehrkräften betrug die Quote der Infizierten mehr als 0,4 Prozent, von Quarantäne-Maßnahmen waren knapp 1,5 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer betroffen; annähernd 0,4 Prozent der Schulen waren komplett, 14 Prozent teilweise geschlossen.

Da die Entwicklung einer Pandemie dynamisch ist (so verdreifachte sich beispielsweise in der zweiten Oktoberhälfte in Niedersachsen die Zahl der infizierten Schülerinnen und Schüler), muss man davon ausgehen, dass die Zahlen bei Erscheinen dieser Ausgabe weiter gestiegen sind. Die Ministerpräsidenten der Länder und die Bundeskanzlerin konnten sich auf ihrem Corona-Gipfel am 16. November nicht auf ein Maßnahmenpaket für die Schulen einigen. Im ursprünglichen Papier von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) waren die Halbierung der Klassen und die Suche nach zusätzlichen Raumkapazitäten vorgeschlagen worden, um Abstände in den Klassen – ergänzt durch entsprechende Lüftungskonzepte – einhalten zu können.

Hohe Dunkelziffer

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisierte die Ablehnung dieser Vorschläge durch die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten scharf. Die Länder würden nicht genug gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie an den Schulen unternehmen und die Gefährdungslage unterschätzen. Die Zahl der Infizierten bei den 10- bis 19-Jährigen sei derzeit ungefähr zehnmal so hoch wie während der ersten Corona-Welle im Frühjahr dieses Jahres. Alle Studien zeigten, dass sich Kinder in erster Linie untereinander in der Schule infizierten und dann ihre Eltern ansteckten, erklärte der SPD-Politiker auf einer Wirtschaftskonferenz Mitte November in Berlin. Lauterbach plädierte daher dafür, Schulklassen ab der Mittelstufe zu halbieren und Online-Unterricht zu organisieren. Grundschulen nahm er von diesem Vorschlag aus, weil hier die Infektionszahlen und das Ansteckungsrisiko geringer seien.

Auch der Kieler Bildungsforscher und Psychologe Olaf Köller forderte, zumindest ältere Schüler digital zu Hause zu unterrichten. Programme für den Distanzunterricht sollten dabei langfristig bis Ende März 2021 angelegt werden und nicht nur bis Weihnachten, sagte der Wissenschaftliche Direktor des Leibniz-Instituts für Pädagogik der -Naturwissenschaften und Mathematik, der an mehreren Stellungnahmen der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, zur Corona-Pandemie beteiligt war. Angesichts der aktuellen Lage müssten die Grundschulklassen zudem verkleinert und Abstände untereinander vergrößert werden.

Solange es keinen Impfstoff gebe, der massenhaft eingesetzt werden könne, werde gerade in der kalten Jahreszeit das Infektionsgeschehen auch an den Schulen problematisch bleiben, so Köller. Die Hoffnung, dass Schülerinnen und Schüler weniger infektiös seien, habe sich nicht erfüllt. Vielmehr gebe es gerade bei jungen Menschen eine hohe Dunkelziffer, weil viele von ihnen infiziert seien, ohne Krankheitssymptome zu zeigen.

RKI-Empfehlungen ignoriert

Das RKI hatte schon im Frühsommer empfohlen, ab einem Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner Schulklassen zu teilen, um einen Mindestabstand von 1,5 Metern wahren zu können, sowie die Maskenpflicht auszuweiten. Die Länder setzen diese Empfehlung allerdings kaum um, wie eine Bestandsaufnahme der GEW ergeben hat. In Thüringen würden die Empfehlungen des RKI für Kitas und Schulen „faktisch außer Kraft gesetzt“, kritisierte beispielsweise die Vorsitzende des GEW-Landesverbandes, Kathrin Vitzthum. Der Vorsitzende der rheinland-pfälzischen GEW, Klaus-Peter Hammer, forderte eine „sofortige Grundausstattung mit FFP2-Masken“ für alle Kolleginnen und Kollegen, auch weil nicht immer und überall die Kinder und Jugendlichen Masken tragen könnten oder dürften; Schnelltests sollten schnell und unkompliziert auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden.

Die GEW hat bereits mit Beginn des Teil-Lockdowns Anfang November gemahnt, die Bildungseinrichtungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Für die Kitas verlangte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe, die individuellen Gefährdungsbeurteilungen nach Arbeitsschutzgesetz umzusetzen. Jede Kita brauche passgenaue und wirksame Hygienepläne. Tepe regte an, freiwillige, kostenfreie Corona-Tests sowie eine Grippeschutzimpfung für die Beschäftigten anzubieten. „In Einrichtungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, ist ein Betrieb der Kita nicht zu verantworten“, betonte Tepe. Kita-Schließungen dürften nicht ausgeschlossen werden, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse nahelegten, dass Kitas eine Rolle bei der Verbreitung des Corona-Virus spielten oder es ein erheblich erhöhtes Risiko für die Beschäftigten gebe.

Politisches Abenteuertum

Die Entwicklung des Infektionsgeschehens der vergangenen Wochen haben die Befürchtungen der Bildungsgewerkschaft bestätigt. Mit deutlichen Worten kritisierte Tepe daher, dass Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten sich bei steigenden Infektionszahlen Mitte November nicht auf ein Maßnahmenpaket für die Schulen verständigt haben. „Wer die Schulen langfristig offen halten will, muss jetzt den Weg dafür bereiten. Es ist völlig unverständlich und sachlich nicht begründet, warum sich die Länder gegen Wechselunterricht wehren, der für die Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I gut umzusetzen ist. Auch wenn es schwierig wird: Für die Grundschulen muss so schnell wie möglich nach zusätzlichen Räumen gesucht werden, damit die Abstände in den Klassen gehalten werden können“, so Tepe. Sie begrüßte, dass das Deutsche Jugendherbergswerk (DJH) mittlerweile einen Vorschlag der GEW aufgegriffen hat und anbietet, seine bundesweit 450 Häuser, die aufgrund der Reisebeschränkungen während der Pandemie nur gering ausgelastet sind, für den Schulunterricht zu öffnen.

„Jetzt ist nicht die Zeit, vernünftige Vorschläge vom Tisch zu wischen – in der Hoffnung, die Infektionszahlen würden schon irgendwie sinken“, so Tepe weiter. Das sei vor dem Hintergrund des steigenden Anteils von Schülerinnen und Schülern, die sich mittlerweile in Quarantäne befinden sowie angesichts Tausender Lehrkräfte, die sich während der zweiten Welle der Pandemie infiziert hätten, „verantwortungslos und politisches Abenteuertum“.

Diesen Beitrag hat der Autor am 23. November verfasst. Die Ergebnisse der Videoschalte zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten vom 25. November konnten aufgrund der Drucklegung der E&W nicht mehr eingearbeitet werden.