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Coronapandemie - eine Zwischenbilanz

Bildung im Ausnahmezustand

In der Corona-Pandemie müssen Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher den Spagat zwischen Gesundheitsschutz und Bildungsauftrag leisten. Wie gelingt das?

Die Corona-Pandemie ist für die Beschäftigten im Bildungssektor eine besondere Herausforderung. (Foto: pixabay/distelAPPArath)

Wenn Ryan Plocher morgens um acht Uhr seine Schülerinnen und Schüler begrüßt, weiß er genau: Die meisten von ihnen liegen noch im Bett. „Weil die Bandbreite nicht reicht, müssen wir im Distanzunterricht in der Regel auf Videokontakt verzichten.“ Sind alle aufmerksam dabei oder schauen sie nebenher Videos, fragt sich der Englischlehrer an der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Britz deshalb häufig. Und haben sie den Stoff überhaupt verstanden? „Niemand erwartet mehr, dass Schülerinnen und Schüler Fortschritte machen“, sagt Plocher. „Unser Ziel heißt: Rückschritte verhindern.“ Und wenigstens in Ansätzen die Kompetenzen aufrechterhalten, die Schule auch vermittelt: einem strukturierten Rhythmus zu folgen, etwas systematisch zu bearbeiten, mündlich Position zu beziehen – und sei es nur aus dem Bett.

„Vieles ist nicht neu, aber im Distanzunterricht so relevant wie nie zuvor.“ (Ryan Plocher)

Schule im Ausnahmezustand gehört seit gut einem Jahr zum Alltag von Plocher – und er hat noch Glück, wie er sagt: Die Fritz-Karsen-Schule ist eine große Einrichtung mit vielen Förderstunden, studentischen Hilfskräften und ausreichender IT-Ausstattung. Schnell haben Quereinsteiger aus der IT-Branche zusammen mit Kolleginnen und Kollegen für eine datenschutzkonforme Schulplattform gesorgt. In Studientagen erarbeiteten Lehrkräfte Konzepte für den Distanzunterricht: Wie fördere ich selbstständiges Lernen, wie muss ich Aufgaben formulieren und Texte aufbereiten, damit sie ohne Hilfe gut verständlich sind? Plocher: „Vieles ist nicht neu, aber im Distanzunterricht so relevant wie nie zuvor.“

Abschlussprüfungen ausgesetzt

Distanzunterricht gelingt laut Plocher nur, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind: Die Schülerinnen und Schüler haben einen eigenen Laptop oder ein Tablet, schnelles Netz, einen ruhigen Arbeitsplatz und nichts nebenher zu bewältigen – auf jüngere Geschwister aufzupassen etwa. Plocher: „Schuldistanzierte Schülerinnen und Schüler sind komplett verloren.“ Im Extremfall kommen sie in Kleinstgruppen von je vier Kindern je Doppelstunde in die Schule und bearbeiten, betreut von Sozial- oder Sonderpädagoginnen und -pädagogen, die Aufgaben. „Doch das reicht nicht“, so Plocher.

Immerhin hat der Berliner Senat die Abschlussprüfungen für die 9. und 10. Klassen für dieses Jahr ausgesetzt. Und immerhin gibt es jetzt, da die Schülerinnen und Schüler sukzessive für mindestens drei Stunden am Tag in den Wechselunterricht zurückkommen, vorerst Masken für alle und wöchentliche Selbsttests für die Lehrkräfte. Plocher: „Das macht den Alltag für uns leichter.“

„Jede Schule muss andere Wege finden, um das Leben mit Corona zu gestalten.“ (Manon Tuckfeld)

Den Alltag an Schulen besser in den Griff zu bekommen, das ist derzeit auch Manon Tuckfelds Job. Jeden Tag stöbert die Gesamtpersonalrätin für den Rheingau-Taunus-Kreis in Hessen durch Corona-Anweisungen des Kultusministeriums und schaut nach den „Fugen in den Verordnungen“, um Gestaltungsspielräume für die Schulen auszuloten. Gut 50 Alltagstipps hat sie bereits an die Personalräte vor Ort verschickt. „Jede Schule muss andere Wege finden, um das Leben mit Corona zu gestalten“, sagt sie.

Eine Fuge etwa heißt: „Der Unterricht kann teilweise in Präsenz erfolgen.“ Tuckfelds Botschaft an die Personalräte: „Keine Sorge also, ihr verstoßt nicht gegen die Regeln, wenn ihr nicht alle zurückholt.“ Und doch melden viele Lehrkräfte der Gesamtpersonalrätin zurück: Es hakt an allen Ecken und Enden.

Gesundheitsschutz gerät in den Hintergrund

Da sind baufällige Fenster, die aus Sicherheitsgründen nicht mehr geöffnet werden dürfen; fehlende Waschmöglichkeiten in den Klassenzimmern, weil das Land keine Waschbecken mehr in den Schulräumen einbaut. „Manche Grundschullehrkräfte können von sechs Stunden Anwesenheitszeit vor Ort gerade mal zwei Stunden netto unterrichten. Den Rest verbringen sie mit Maskenpausen, Lüften und Anstehen zum Händewaschen.“ Ganz zu schweigen vom Datenschutz. „Der ist auf den meisten Schulplattformen nicht gewährleistet.“

Viele Lehrkräfte machten trotzdem weiter – dem Bildungsauftrag zuliebe. Der Gesundheitsschutz gerate ohnehin oft in den Hintergrund. 60 bis 100 Schülerinnen- und Schülerkontakte am Tag haben Lehrkräfte nach Einschätzung der Personalrätin im Schnitt.

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

„Kreative Dienstpläne“

Erni Schaaf-Peitz hat es zumindest organisatorisch leichter. „In Kitas gibt es mehr Spielräume als im System Schule“, sagt die Leiterin der Kita Wittlich in der Eifel. Schaaf-Peitz und ihr Team stecken mittlerweile, in „Phase acht oder neun“ der Corona-Betreuung. Es ist ein Wechselspiel von Notbetreuung, erweiterter Notbetreuung, „Spielesettings“, Regelbetrieb bei dringendem Bedarf, modifizierter Regelbetrieb und so fort. „Verlässliche Planung ist unmöglich“, sagt sie. Mit Eltern muss die Kita-Leiterin den genauen Bedarf aushandeln, mit Kolleginnen „kreative Dienstpläne“, in denen jede Fachkraft immer nur mit denselben Mädchen und Jungen Kontakt hat. „Gerade jetzt brauchen Kinder für ihre Sicherheit die Bezugserzieherin.“ Für Kolleginnen, die Sorge haben sich anzustecken, muss sie Einsatzbereiche mit möglichst wenig intensivem Kind-Kontakt finden.

Und immer wieder gibt es Diskussionen im Team: Können wir auch den Kleinsten mit Masken begegnen? Wie viel Körpernähe braucht welches Kind? Wie fangen wir die Ängste der Kinder auf? Schaaf-Peitz: „Wir arbeiten ständig an kreativen Lösungen.“ Materialien zum Werken auf einem Wagen überall zugänglich machen, nicht nur im Bauraum; Händewaschen als kleines Ritual inszenieren; die Übergabe der Kinder vor der Kita zu einer intensiven Begegnung machen.

„Wir nehmen uns mehr Zeit für individuelle Gespräche, die Atmosphäre ist viel zugewandter.“ (Erni Schaaf-Peitz)

Neuerdings steht ein Baldachin vor der Eingangstür, ein kleiner Begegnungsraum für Eltern, Kinder und Fachkräfte, der zudem Schutz vor Regen bietet. Laminierte Fotos aus dem Kita-Alltag baumeln daran, damit Eltern wissen, was drinnen vor sich geht, wenn sie ihrem Kind „Tschüss“ gesagt haben. „Wir nehmen uns mehr Zeit für individuelle Gespräche, die Atmosphäre ist viel zugewandter“, erzählt Schaaf-Peitz. Die bessere Fachkraft-Kind-Relation in Corona-Zeiten macht es möglich.

Auch anderweitig entsteht Positives, neue Spielfreundschaften durch neue Gruppenzusammensetzungen etwa. Die Pädagogik ändere sich auch unter Pandemie-Bedingungen nicht. „Wir folgen nach wie vor den Bedürfnissen der Mädchen und Jungen.“ Und wenn die Kita-Leiterin wieder mal ein Kind sagen hört: „Morgen darf ich ja nicht kommen, weil meine Mama nicht arbeitet“, weiß sie: „Die Kita hat den Paradigmenwechsel geschafft: von einer Verwahrungsstelle zum wichtigen Bildungs- und Lebensort.“ Vielleicht bleibt auch deshalb bislang keine Fachkraft auf Dauer aus gesundheitlichen Bedenken fern. Schaaf-Peitz: „Wir sind Erzieherinnen geworden, um einen Bildungsauftrag zu erfüllen – für unsere Kinder.“

Für die Kitas verlangt die GEW, die individuellen Gefährdungsbeurteilungen nach Arbeitsschutzgesetz umzusetzen. Jede Kita braucht passgenaue und wirksame Hygienepläne. „Die Regelungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) für Kitas zum Infektionsschutz sind zu beachten und umzusetzen. Weiter müssten alle Kitaträger Betriebsmediziner einsetzen, diese sollten die Risikogruppen bei den Beschäftigten beraten und im Einzelfall von der Arbeit in der Kita freistellen“, sagte GEW-Chefin Marlis Tepe. Sie regte zudem an, freiwillige, kostenfreie Coronatests sowie eine Grippeschutzimpfung für die Beschäftigten anzubieten.

  • Freiwillige, kostenfreie Coronatests sowie eine Grippeschutzimpfung für die Beschäftigten
  • Passgenaue und wirksame Hygienepläne für jede Kita
  • Umsetzung der Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an Kitas
  • Risikogruppen von Betriebsmedizinern beraten lassen und im Einzelfall von der Arbeit an der Kita freistellen

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.