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Verband der Erzählerinnen und Erzähler (VEE)

Bilder im Kopf entstehen lassen

Sagen, Mythen, Märchen – ohne Buch oder Skript, allein durch Sprache: Erzählerinnen und Erzähler verleihen bei ihren Besuchen in Kitas und Schulen alten Geschichten ein neues Leben. Ein Gespräch mit der Erzählerin Tanja Mahn-Bertha vom VEE.

Die Kunst des Geschichtenerzählens ist ein Verbindungsglied zwischen der mündlichen Überlieferung und der Literatur. (Foto: pixabay/Tumisu)
  • E&W: Warum erzählen sie Kindern Geschichten?

Tanja Mahn-Bertha: Geschichten sind ein Schatz. Mit ihnen lässt sich unheimlich viel vermitteln: Wissen, Werte, Sensibilität für kulturelle Unterschiede. Wir können mit Kindern Geschichten erfinden oder sie weiterspinnen. Und eine ganz wichtige Fähigkeit schulen: anderen zuzuhören.

  • E&W: Was unterscheidet Erzählerinnen und Erzähler von Vorlesenden?

Mahn-Bertha: Wir sind nicht an ein Buch und den genauen Wortlaut des geschriebenen Textes gebunden. Deshalb müssen wir auch nicht ständig hingucken und hochgucken wie es Vorleser oft tun, sondern sind flexibel. Wir setzen Gestik, Mimik und unseren Körper ein, um eine Geschichte zum Leben zu erwecken. Wir dürfen die Geschichten ein wenig variieren und doch verwenden wir eine etwas literalere, ausgefeiltere Sprache.

  • E&W: Freies Erzählen bewegt sich also irgendwo zwischen dem täglichen Erzählen am Frühstückstisch und Literatur?

Mahn-Bertha: Ja, deshalb ist es ein wertvolles Verbindungsglied zwischen beiden Ebenen. Wir liefern ein erreichbares Vorbild und machen neugierig: Aha, da gibt es ja etwas zwischen dem Alltagstalk und der großen, perfekten Literatur, und das ist für jeden zugänglich. Die Mündlichkeit erlaubt es uns, mit unserer Kunstform natürlicher zu bleiben, näher an den Menschen.

  • E&W: Was möchten Sie als professionelle Erzählerin bei den Zuhörenden auslösen?

Mahn-Bertha: Dass in ihren Köpfen eigene Bilder entstehen und sie dadurch die Geschichten verinnerlichen. Ich als Erzählerin stehe deshalb gar nicht im Vordergrund. Das Entscheidende ist die Geschichte und die Vorstellungskraft, die ich mit ihr in Gang setze. Die Art, in der wir erzählen, lässt diese Bilder im Kopf entstehen.

  • E&W: Wie machen Sie das?

Mahn-Bertha: Wir beschäftigen uns intensiv mit dem Inhalt, mit den Charakteren und den Wurzeln der Geschichte. Wir gehen ähnlich vor wie ein Schauspieler, der sich in seine Rolle hineindenkt. Nur, dass wir in einer Geschichte in alle Rollen hineinschlüpfen und sie natürlich viel minimalistischer präsentieren als auf einer Theaterbühne. Stimme, Mimik, Gestik und Körpereinsatz spielen eine Rolle. Je nach Alter der Kinder passe ich die Art des Erzählens an oder arbeite mit Requisiten.

  • E&W: Zum Beispiel?

Mahn-Bertha: Bei Kindern, die jünger als drei Jahre sind, erzähle ich zum Beispiel gerne das Märchen vom süßen Brei. Dann habe ich immer einen Schnellkochtopf dabei, in den ich vorher weißes Blumenflies gestopft habe. Während ich erzähle wie der Brei überkocht und kocht und kocht, öffne ich den Topf und schon blubbert das Vlies heraus, langsam ziehe ich es über den Schoß von allen Kindern. So wird sinnlich erfahrbar, wie sich der Brei verbreitet.

  • E&W: Beziehen Sie Kinder auch aktiv in eine Geschichte ein?

Mahn-Bertha: Unbedingt, das ist eine ganz wichtige Technik, je kleiner die Kinder sind. Wenn ich etwa das Märchen vom Dummling erzähle, der in die Welt hinauszieht und mit Hilfe der Tiere schließlich die Hand der Prinzessin erobert, beteilige ich die Kinder durch Fragen: Welches Tier könnten die Brüder am See getroffen haben? Wer könnte dem Dummling jetzt zu Hilfe eilen? Es ist unglaublich, wie die Kinder da mitgehen.

  • E&W: Wie erkennen Sie, ob bei ihnen Bilder im Kopf entstehen?

Mahn-Bertha: Viele Kinder sitzen dann mit großen Augen und offenem Mund da. Bei manchen geht der Blick ins Leere, sie scheinen ganz woanders zu sein, aber meist sind sie einfach auf ihre Weise in die erzählte Welt versunken. Natürlich lässt sich in diesem Augenblick von außen nicht genau einschätzen, was in einem Kind vorgeht. Aber man erfährt es, wenn man danach mit ihnen spricht. Oder wenn Eltern erzählen, was es zu Hause erzählt oder nachgespielt hat.

  • E&W: Gibt es auch Kinder, die Sie nicht erreichen?

Mahn-Bertha: Vereinzelt. Meist ist das Gegenteil der Fall: Die Kinder sind viel intensiver dabei, als es die Fachkräfte für möglich halten. Oft höre ich: Wir sind hier ein Brennpunktkindergarten, unsere Kinder können dafür nicht genug Deutsch, und mehr als zehn Minuten können sie nicht am Ball bleiben. Viele Fachkräfte sind völlig überrascht, wenn diese Kinder eine halbe Stunde lang konzentriert zuhören. Beim Erzählen trägt die Emotion die Geschichte, und über Stimme und Körper lässt sich vieles vom Inhalt erschließen.

  • E&W: Welche Art Geschichten erzählen Sie?

Mahn-Bertha: Meist wähle ich tradierte Geschichten, Märchen aus aller Welt zum Beispiel, denn sie haben einfache schwarz-weiß-gut-böse-Botschaften, einfache Bilder, eine einfache Satzstruktur und Sprache. Wer viele dieser Geschichten gehört hat, weiß intuitiv wie eine Geschichte funktioniert. Auf dieser Basis lassen sich gemeinschaftlich sogar eigene Geschichten entwickeln.

  • E&W: Sie bilden auch pädagogische Fachkräfte im Erzählen fort …

Mahn-Bertha: … und das Interesse ist riesig, denn Fachkräfte wissen, dass Geschichten allen Spaß machen. Aber leider sind wir oft durch die Schule gehemmt. Viele sagen: Ich lese gerne vor, frei erzählen kann ich nicht. Malen, Musik, Aufsatz – Kunst wird in der Schule bewertet. Dadurch geht etwas kaputt.

  • E&W: Wie brechen Sie diese Hemmungen auf?

Mahn-Bertha: Indem ich die Teilnehmenden schon nach zehn Minuten selbst erzählen lasse. Die meisten sind schockiert. „Ich habe die Geschichte doch erst einmal gehört, das kann ich nicht.“ Dann sage ich: „Doch, Sie können.“ Denn wir haben ja alle die Bilder im Kopf, wir müssen nur lernen, ihnen wieder zu trauen.

  • E&W: Wie?

Mahn-Bertha: Ich lasse alle eine Geschichte lesen und dazu drei bis fünf Szenenbilder malen. Diese Bilder machen es ihnen leichter, anschließend frei zu erzählen. Dann üben wir Schritt für Schritt zu verfeinern: Wie sieht die Landschaft in der Geschichte aus, wie sind die Protagonisten gekleidet, wie hören sie sich an? Von Erzählrunde zu Erzählrunde wird sie bunter, reicher, anschaulicher. Die Teilnehmenden experimentieren mit Sprechpausen, Mimik und Gestik. Bis die Geschichte rund ist.

Tanja Mahn-Bertha (Foto: privat)