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Related Crew

„Beziehung ist alles“

Brennpunktschule? Wer eine Schule besucht, die so genannt wird, findet oft schon den Begriff schlimm. Eine Initiative in Berlin wechselt die Perspektive. Und lässt Schülerinnen und Schüler selbst zu Wort kommen.

"Man kann Schülerinnen und Schüler nicht auf das Leben vorbereiten, wenn man nichts über sie weiß." (Mona Hamed, links; rechts im Bild: Narges Tawakkoli / Foto: Rolf Schulten)

Narges Tawakkoli war 14 Jahre alt, als sie aus Afghanistan kam, 20, als ihre Familie aus der Flüchtlingsunterkunft aus- und in eine Wohnung einziehen konnte. Das war erst in diesem Jahr. Trotzdem ist sie gut in der Schule angekommen und steht, als sie sich mit der E&W trifft, kurz vor ihrer letzten Abiprüfung. Eine Riesenleistung, so schnell so gut Deutsch zu lernen, denkt man, wenn man ihr gegenübersitzt – wie überhaupt der Respekt vor dem, was sie erreicht hat, riesig ist. Schließlich musste die 20-Jährige in der Corona-Pandemie mit ihren drei Geschwistern in einem winzigen Raum lernen, aus dem eine Verbindung zur Außenwelt nur unregelmäßig herzustellen war. „Dauernd brach im Heim das Internet zusammen“, erzählt sie, „im Lockdown wurde mir so richtig klar, was für ein großes Thema Bildungsgerechtigkeit ist.“

Die Berliner Schülerin sagt das so professionell, weil Chancengleichheit für sie sozusagen professionelles Thema ist. Zusammen mit Mona Hamed, die neben ihr sitzt, macht Narges mit in einer Gruppe, die den Namen Related Crew trägt. Deren Ziel: zum Thema Schule in benachteiligten Vierteln einmal die zu Wort kommen zu lassen, für die diese am wichtigsten ist. „Und das sind wir, die dort auf das Leben vorbereitet werden“, findet Mona, die schon zu dem oft verwandten Titel „Brennpunktschule“ eine klare Haltung hat: „Ein dummer Name“, erklärt sie, „wir sind keine Brennpunktschülerinnen. Sondern Kinder und Jugendliche, die in der Schule ihr zweites Zuhause haben.“

„Bei uns ist den meisten Lehrern klar, dass man Schülerinnen und Schüler nicht auf das Leben vorbereiten kann, wenn man nichts über sie weiß.“ (Mona Hamed)

Auf ihre eigene Schule wollen die beiden nichts kommen lassen. Narges und Mona besuchen die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli, der dank massiven Engagements vieler Beteiligter und beachtlicher Investitionen ein beispielloser Wandel gelang: Ihre Vorgängerin war vor rund 15 Jahren bundesweites Symbol für das Scheitern von Schule in sozial schwierigen Lagen. Heute gibt es mehr Anmeldungen als Plätze. Und manchmal heißt es, in Zeiten der Gentrifizierung besuchten vor allem Mittelschichtskinder den Campus; das ist allerdings eine These, die sich beim jüngsten Besuch der E&W anlässlich des Tags der Pressefreiheit 2019 nicht halten ließ.

Was also macht für die beiden Schülerinnen den Unterschied? „Bei uns ist den meisten Lehrern klar, dass man Schülerinnen und Schüler nicht auf das Leben vorbereiten kann, wenn man nichts über sie weiß“, erklärt Mona. „Wie wohnen wir? Was denken wir? Wo erleben wir Diskriminierung? Unsere Schule ist auch ein Ort für solche Fragen.“

Persönliche Geschichten

Diese Themen stehen auch im Zentrum, wenn die Related Crew angehende Lehrkräfte besucht. Sie ist auf dem Lehramtsfestival der studentischen Initiative Kreidestaub aufgetreten und hat an der Humboldt-Universität zu Berlin ein dreiteiliges Seminar gegeben. Als nächstes steht ein Termin an der Bremer Universität an. Außerdem gibt es einen Instagram-Account. Wenn nach dem Abitur etwas mehr Zeit ist, soll endlich eine Reihe bereits aufgezeichneter Podcasts produziert werden. Auch hier immer Thema: persönliche Geschichten der Schülerinnen und Schüler.

„Studierende lernen inzwischen vielleicht etwas über strukturellen Rassismus“, erklärt Nils Katz, „doch das heißt ja nicht, dass sie Lebensrealitäten kennen.“ Katz, inzwischen an der Uni Bremen tätig, war Lehrer auf dem Campus Rütli, als ihm mit einigen Kollegen die Idee zu der Related Crew kam: „Wir wurden immer wieder eingeladen“, erinnert er sich, „eines Tages dachten wir: Drei weiße Lehrer, keiner in Neukölln aufgewachsen, sollen über unsere Schule sprechen?“ Sie sprachen Schülerinnen und Schüler an. Mit denen, die Lust hatten, zogen sie sich erst einmal in ein Seminarzentrum zurück und fragten, worüber sie denn sprechen wollten.

„Mir wurde bewusst, was es für Schülerinnen und Schüler heißt, sich mit sozialer Benachteiligung durchs Leben zu schlagen: Geldsorgen, keine soziale Absicherung, Sorgen wegen kranker Familienmitglieder.“ (Nils Katz)

Blickt Katz zurück auf das Wochenendseminar, das kurz vor der Pandemie stattfand, berichtet er von regelrechten „Aha-Momenten“. Warum? „Mir wurde bewusst, was es für Schülerinnen und Schüler heißt, sich mit sozialer Benachteiligung durchs Leben zu schlagen: Geldsorgen, keine soziale Absicherung, Sorgen wegen kranker Familienmitglieder.“ Geflüchtete Schülerinnen und Schüler hätten zudem zusätzlich Ängste, etwa wegen des befristeten Aufenthaltsrechts. „Oft kommt so vieles zusammen. Und auf einmal dachte ich: Wie naiv wir sind, zu denken, wir machen einfach unseren Unterricht und alle freuen sich darauf!“ Die oberste Lehre, die er mitnahm: „Beziehung ist alles. Zu denken, wir wissen schon alles – immer ein Fehler.“

In der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln gelang der Wandel. Beispielhaft dafür ist der neue Sport- und Freizeitraum. (Foto: IMAGO/Photopress Müller)

„Warum holt man uns nicht mit ins Boot?“

Das gilt in den Augen von Narges und Mona auch für die Bildungspolitik. Spricht man sie auf das Berliner Bonusprogramm an, das Schulen in schwierigen Lagen mit mehr Ressourcen ausstattet, fragt Narges: „Warum holt man uns nicht mit ins Boot? Ich kenne das Programm zum Beispiel gar nicht.“ Fragt man die beiden Schülerinnen, was sie sich für ihre Schule vor allem wünschen, entsteht eine lange Liste, für deren Erfüllung es mit mehr Geld allein nicht getan ist: „Mehr Zeit“, „mehr Zuhören“ stehen darauf ganz oben – und zwar auch, wenn es um Dinge geht, die mit dem Curriculum gar nichts zu tun haben. „Wir würden gern mehr über Themen sprechen, die uns beschäftigen“, sagt Narges, „was zum Beispiel in Afghanistan oder jetzt in der Ukraine passiert.“

An der Rütli-Schule, erzählen die beiden, sei ein erster wichtiger Schritt gemacht: Dort gibt es ein Fach namens „Glauben & Zweifeln“, das immerhin ein Fenster öffnet für vieles, für das sonst kein Platz ist. „Doch auch der Klassenrat müsste gestärkt werden“, sagt Mona, „so dass wir mehr mitentscheiden können.“ Was sie außerdem nicht gut findet: „Warum müssen wir alle das Gleiche lernen? Schülerinnen und Schüler sind Individuen. Jede und jeder von uns kann etwas anderes gut.“ Ihr Wunsch: Eine Schule mit mehr Wahlfreiheit – in der niemand mehr durchfallen kann, wegen einer 5 in einem Fach, das ihn oder sie gar nicht interessiert.