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Coronapandemie

Bevor der Berg zu groß wird

Corona hat den Schulalltag verändert, zum Teil digitalisiert. Dem stehen erhebliche Mehrbelastungen für die Kollegien gegenüber. Kreativität ist gefragt. Auch wenn es darum geht, soziale und emotionale Folgen aufzufangen. Ein Blick in drei Schulen.

Sophie Reinhold ist 19 Jahre alt. Ihr Abitur hat sie am Georgius-Agricola-Gymnasium im sächsischen Glauchau abgelegt. Lehrerin möchte die junge Frau eigentlich nicht werden. Doch jetzt schlüpfte sie erst einmal in eine solche Rolle. Sie agiert als „Corona-Coachin“. Lange gezögert hat sie nicht, als die stellvertretende Schulleiterin Maria Vogel anrief und ihr den Job, der aus dem Bundesprogramm „Aufholen nach Corona“ finanziert wird, anbot. Reinhold steht Schülerinnen und Schülern unter anderem an drei Tagen wöchentlich zur Verfügung, wenn diese kurzfristige Unterstützung benötigen. „Entweder können wir eine Frage direkt klären oder ich recherchiere und antworte per Mail oder über unsere Lernplattform“, berichtet sie.

Das Lerncoaching ist ein Weg, den das Gymnasium im Umgang mit Corona eingeschlagen hat. Der entscheidende Schritt aber war, einen möglichst guten Draht zu den Kindern und Jugendlichen zu pflegen. So auch, als es um die Vergabe der Zeugnisse ging. Das Kollegium überreichte sie an allen möglichen Orten persönlich. Mal am Gartentor, mal auf einem Parkplatz. Schulleiterin Kerstin Pyritz: „Wir wollten damit die Leistungen wertschätzen und den persönlichen Kontakt wenigstens in diesem wichtigen Moment aufrecht erhalten. Dieser ,Mehraufwand‘ hat sich gelohnt.“

„Kontaktverbot“ von Freitag, 17 Uhr, bis Montag, 7 Uhr

Einen Mehraufwand mussten die Schulen auch leisten, als es hieß, stärker auf digitale Medien zurückzugreifen. Der Start der zur Verfügung stehenden Plattformen, die fehlende eigene Erfahrung und lange nicht vorhandene Endgeräte erschwerten den Einstieg. Er war oft von Pleiten, Pech und Pannen begleitet. Zwei Jahre später wissen viele um die Vorzüge des Neuen. „Die Kommunikation ist insgesamt schneller und einfacher geworden“, versichert etwa Andrea Theisen-Welsch. Sie leitet die Gutenbergschule im rheinland-pfälzischen Dierdorf.

Allerdings habe der Umgang mit der nun gefühlten „Permanenterreichbarkeit“ trainiert werden müssen. „Das Kollegium drohte, sich in ständiger Alarmbereitschaft zu befinden“, berichtet die Schulleiterin. Es wurden Regeln aufgestellt, um dem Einhalt zu gebieten. Von Freitag, 17 Uhr, bis Montag, 7 Uhr, wurde ein „Kontaktverbot“ verhängt. „Es sei denn, es brennt“, schränkt Theisen-Welsch ein.

Viel hat die Grundschule getan, um die Kinder nicht allein ihrem Schicksal zu überlassen. Als Videokonferenzen im ersten Lockdown noch unregelmäßig stattfinden konnten, telefonierte das Team mit den Schülerinnen und Schülern. Häufig und lange. Auch damit ein Gefühl dafür entstehen konnte, wer zusätzlicher Unterstützung bedurfte, weil die Rahmenbedingungen daheim nicht optimal waren.

„Defizite haben wir nach dem Lockdown aber schwerpunktmäßig im sozialen und im motorischen Bereich festgestellt.“ (Andrea Theisen-Welsch)

Leistungsrückstände in den schulischen Kernbereichen musste die Schule nicht registrieren. „Wir führen das auf die klar durch die Schule vorgegebene Tagesstruktur mit einer Online-Input-Sitzung zu Beginn des Schultages und einer Kontrollsitzung am Ende zurück“, sagt die Schulleiterin. Jedes Kind nahm in kleinen Gruppen immer zu festen Zeiten daran teil. So erübrigten sich häusliche Diskussionen über Schlafengehens- oder Hausaufgabenzeiten sowie die Qualität der erbrachten Arbeiten. Nach und nach wurden die Onlinezeiten ausgedehnt und neben den Kernfächern auch wichtige andere Bereiche eingebaut – etwa Musik, Kunst und Sport.

Theisen-Welsch: „Defizite haben wir nach dem Lockdown aber schwerpunktmäßig im sozialen und im motorischen Bereich festgestellt.“ Sie bedauert, dass die „Aufholen-nach-Corona-Programme des Landes leider nur sehr bedingt weiterhelfen“. Sie und ihr Team wünschen sich zum Beispiel einen deutlichen Ausbau der Schulsozialarbeit und bei den Ferienschulen eher eine qualifizierte Freizeitbetreuung, die in diesen Bereichen ansetzt und gleichzeitig das Betreuungsproblem der Eltern löst.

Und noch einen Wunsch äußert sie: „Als Schulleitung übernehmen wir die belastende Aufgabe, als Sprachrohr des Staates gegenüber den Eltern aber auch dem Kollegium aufzutreten, die sich mit zahlreichen Fragen und Sorgen an uns wenden. Da wäre es schön, wenn wir nicht, wie in der Pandemie geschehen, auch noch zum permanenten Erstellen von Statistiken verpflichtet wären.“

Am Ziel vorbei

Das Bundesprogramm „Aufholen nach Corona“, über das Schülerinnen und Schüler mit Lernrückständen wieder Anschluss finden sollen, läuft bislang nur mäßig. Das ergab eine Umfrage des GEW-Hauptvorstandes bei den GEW-Landesverbänden. Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern kritisiert, dass viele Angebote nicht die Kinder erreichten, die am meisten auf Unterstützung angewiesen seien, sondern jene, deren Eltern sich am besten um Hilfen kümmern könnten. Zudem würden Gelder oft nicht in die Schulen fließen, sondern in außerschulische Maßnahmen und damit den gewünschten Beitrag zu mehr Chancengleichheit verfehlen.

Bundestag und Bundesrat hatten im Juni 2021 das Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ in Höhe von zwei Milliarden Euro beschlossen. Der Bund überlässt den Ländern unter anderem Anteile aus der Umsatzsteuer, sodass diese zusätzliche Maßnahmen zur Lernförderung finanzieren, Sozialprojekte ausweiten und mehr kostenlose und günstige Freizeit-, Sport- und Erholungsangebote anbieten können. Die Bundesländer sollen dem Bund bis spätestens Ende März einen Zwischenbericht zur Umsetzung der Maßnahmen und Verwendung der Gelder vorlegen.

Jürgen Amend, Redakteur der „Erziehung und Wissenschaft“

Umgang mit sozialen und emotionalen Folgen

Von „oben“ gut begleitet fühlte und fühlt sich die Rhönschule im hessischen Gersfeld. „Wir haben viele wertvolle Informationen erhalten, uns wurden Entscheidungen abgenommen, wenn es etwa um die Masken- und Testpflicht oder die Entscheidung über Präsenz- oder Distanzunterricht ging“, erklärt der Leiter der Kooperativen Gesamtschule, Marco Schumacher.

Was die Schulträger den Schulen nicht unmittelbar abnehmen können, ist der Umgang mit den sozialen und emotionalen Folgen des Distanzunterrichts. Schumacher hört sie im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen, hat sie aber auch selbst erlebt. Manche Schülerinnen und Schüler stünden nach der Rückkehr in den Präsenzunterricht mitunter auf, marschierten wortlos Richtung Tür. Die Frage, was sie vorhaben, beantworteten sie eher achselzuckend: „Ich gehe zur Toilette.“ Den Hinweis, dass es üblich sei zu fragen, ob man das Klassenzimmer verlassen dürfe, könnten sie nur (noch) ansatzweise nachvollziehen. Zu Hause im Distanzunterricht mussten sie ja auch nicht fragen.

„Gerade jene, die zu Beginn des Distanzunterrichts nicht konsequent mitgearbeitet haben, resignieren irgendwann, weil der Berg einfach zu groß geworden ist.“ (Marco Schumacher)

Deutlich zugenommen hat nach Einschätzung Schumachers die Zahl der Kinder, die den leistungsmäßigen Anschluss zu verlieren drohen. „Gerade jene, die zu Beginn des Distanzunterrichts nicht konsequent mitgearbeitet haben, resignieren irgendwann, weil der Berg einfach zu groß geworden ist“, hat er festgestellt. Er räumt ein, dass es ihm sowie den Kolleginnen und Kollegen schwerfalle, außerhalb der Klassengemeinschaft „mitzubekommen“, wenn eine Schülerin oder ein Schüler nichts mache.

Die Sorge, ihr Kind könne mit der Situation nicht umgehen, teilen auch Eltern. „Manche sehen die Verantwortung dafür allein bei uns und kümmern sich nicht darum. Andere sprechen uns an. Oft können wir versprechen, dass wir das später auffangen“, berichtet Schumacher. Ein „aber“ folgt: „Das gelingt nur, wenn wir kontinuierlich zusammen in der Schule arbeiten können.“ 

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.