Fotos: Manfred Brinkmann
Das Wunder von Harlem
Heute wird ein langer Tag. Zunächst besuchen wir die „Rafael Hernandez – Langston Hughes Grundschule" in Harlem (in der Bezeichnung der New Yorker Schulbehörde auch PS 30M). Dort werden wir schon von den UFT-Kolleginnen Evelyn DeJesus, Wilma Velasques und Catalina Fortino sowie von Klaus Bornemann erwartet. Klaus ist in Bremen geboren und als Kind in die USA emigriert. Wie die UFT-Frauen arbeitet er als Gewerkschaftssekretär in Manhattan.
Die PS 30M ist eine von vier eigenständigen Schulen unter einem Dach, die sich gemeinsam ein Schulgebäude teilen müssen. Schulleiterin Karen Melendez Hutt begrüßt uns herzlich und stellt uns ihr Team vor. Vor zehn Jahren hat sie die Brennpunktschule in einem ziemlich desolaten Zustand übernommen und wurde anstatt mit „Herzlichen Glückwunsch“ mit den Worten „Herzliches Beileid“ begrüßt. Anfangs musste sie sich gegen heftige persönliche Anfeindungen als Frau und als Weiße behaupten. „Mir wurde schnell klar, dass ich mir ein Team an die Seite holen muss“, berichtet Karen Melendez Hutt. Heute gehören dazu unter anderem Coaches, die als „Organisationsplaner“ das schulinterne Curriculum entwickeln, Lehrerberatung anbieten, differenzierte Lehrmaterialien zusammenstellen und Unterstützung bei verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern gewährleisten. Je nachdem, welche Unterstützung im Unterricht benötigt wird, werden spezielle pädagogische MitarbeiterInnen eingesetzt.
Die Schule verfügt außerdem über zwei VertretungslehrerInnen, die erkrankte KollegInnen jederzeit ersetzen können. Das zusätzliche Personal wird aus dem Schulbudget finanziert. Das Konzept der Schulleiterin, die Schule im Team mit vereinten Kräften zu führen, hat sich offenbar sehr bewährt. Die Schule wurde mehrmals als eine der „Great Schools" in New York mit A (Note 1) bewertet.
An der Präsentation beteiligen sich neben der Schulleiterin und den Lehrkräften auch Beschäftigte anderer Professionen, die an der Schule tätig sind. Für uns ist erkennbar, dass hier ein großer Teamgeist herrscht. Beim Besuch verschiedener Unterrichtsstunden können wir mit Faszination feststellen, dass eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre und eine herzliche Beziehung zwischen SchülerInnen und Lehrkräften herrscht.
Die Schule integriert auch SchülerInnen, die sozial-emotionale Schwierigkeiten und Sprachstörungen haben. Falls ein Kind im Unterricht andere Defizite aufweist, so ist es möglich, dieses bei Bedarf in den Sonderschulbereich überzuleiten, der sich im gleichen Gebäude befindet. Das Curriculum wird den Bedürfnissen der SchülerInnen angepasst. „Wir wollen die Kinder nicht nur auf Tests vorbereiten, sondern ihnen Wissen vermitteln, das sie im praktischen Leben brauchen und ihnen helfen zu erkennen, wo ihre Interessen und Stärken liegen“, so die Schulleiterin.
Das Beispiel der „Rafael Hernandez – Langston Hughes Grundschule" zeigt uns, dass auch eine schwierige Brennpunktschule dank eines passenden Konzepts und kontinuierlicher Teamarbeit (die sich aber nur mit zusätzlichen Mitteln finanzieren lässt!), zu einer guten Grundschule werden kann. Diese Schule kann als positives Gegenbeispiel zu der in Berlin herrschenden finanziellen Knappheit und personellen Sparmaßnahmen an falscher Stelle dienen. Denn mit den richtigen Mitteln an der richtigen Stelle können auch Wunder passieren – Nothing is impossible!
Shuang Wen Bilingual School: In der Länge liegt die Kraft?
Der zweite Schulbesuch führt uns nach Midtown Manhattan zur Shuang Wen Schule (oder PS 184M). Chinatown liegt direkt um die Ecke. Hier werden SchülerInnen vom Kindergarten bis zur achten Klasse zweisprachig unterrichtet. Je nach Unterrichtsthema wird mit den Kindern Englisch oder Mandarin gesprochen. Die Lehrkräfte müssen beide Sprachen beherrschen. Den SchülerInnen wird nicht nur Sprache, Tradition, Geschichte und Kultur Chinas vermittelt, sondern auch ein direkter Vergleich zwischen der abendländischen und morgenländischen Zivilisation ermöglicht.
Die Shuang Wen School ist eine Ganztagschule, die von 8:00 bis 17:30 Uhr Unterricht anbietet. Der Nachmittagsbetrieb (15:00 bis 17:30 Uhr) wird allerdings nicht aus dem Haushalt der Stadt New York bezahlt, sondern durch Elternbeiträge und Stiftungsspenden finanziert. Wir teilen uns in zwei Gruppen auf und besuchen einige Klassenräume und Unterrichtsstunden. Dabei stellen wir fest, dass auch am Nachmittag sehr konzentriert gearbeitet wird. Die Klassen sind zwar relativ groß (zwischen 22 und 30 SchülerInnen), jedoch herrscht im Unterricht eine entspannte und kreative Atmosphäre. „Der lange Unterrichtsbetrieb hat positiven Einfluss auf die Leistung der Schüler“, berichtet die Schulleiterin Ling-ling Chou. „Die Schule hat inzwischen so viele Anmeldungen, dass wir losen müssen, um eine Auswahl treffen zu können.“
Besuch im UFT-Hauptquartier
Im Anschluss fahren wir mit der U-Bahn zum Hauptquartier der UFT, das sich in einem Hochhaus am Broadway direkt neben dem New Yorker Finanzdistrikt befindet. Die UFT-KollegInnen informieren uns ausführlich über die Arbeit ihrer Gewerkschaft und die verschiedenen Leistungen, die den Mitgliedern angeboten werden. Zu den Themen gehören u. a. soziale Sicherung und Pensionen von Lehrkräften, Beschwerde- und Schlichtungsverfahren, Lehrerzentren und Lehrerfortbildung, technische Ausbildung, Kommunikation, Gesundheit und Sicherheit sowie Opferunterstützungsprogramme.
Zwei weitere Themen sind für uns besonders interessant: Tagesmütter und „Charter Schools". Mit Stolz berichten die UFT-Leute, dass es ihnen in jüngster Zeit gelungen ist, eine große Zahl Tagesmütter („day care workers") gewerkschaftlich zu organisieren. Die UFT hat dadurch 28.000 neue Mitglieder gewonnen, deren Interessen sie gegenüber der Stadt New York vertritt und denen die Gewerkschaft eine professionelle Ausbildung anbietet.
Ein weiteres großes und aktuelles Thema sind die so genannten „Charter Schools", die die Privatisierung des Schulsystems vorantreiben. Die ursprüngliche Funktion der Charter Schools bestand darin, innovative Modelle, die eine allgemeinbildende Schule nicht anbieten kann, zu erproben. Dies ist aber heute nicht mehr der Fall – die Charter Schools stehen für das „business model“ der Schule im Gegensatz zu dem zivilgesellschaftlichen Modell („civil society model“) der staatlichen allgemeinbildenden Schulen.
Charter Schools werden von einem „private management“ geleitet, das angeblich effizienter arbeitet: In der Praxis bedeutet dies, dass meist nur junge LehrerInnen angestellt werden, da diese billiger sind (in den USA steigt das Lehrergehalt mit den Berufsjahren) und oft nicht vorhaben, länger als ein paar Jahre als Lehrkraft an einer Schule zu arbeiten. Diese Lehrer sind für die UFT nur sehr schwer zu organisieren.
Die UFT kritisiert, dass Charter Schools zwar aus öffentlichen Geldern finanziert werden (die dann den staatlichen Schulen fehlen), aber nicht die Aufgaben einer öffentlichen Schule wie z. B. Integration übernehmen. Die Charter Schools dürfen sich ihre SchülerInnen aussuchen, d. h. Kinder aus sozial schwachen Familien oder Kinder Obdachloser werden nicht zugelassen. Nach Meinung der UFT dienen die Charter Schools dem Zweck, das öffentliche Schulsystem zu untergraben und Bildung als Ware zu etablieren. Aufgabe der Gewerkschaft müsse es dennoch sein, auch die Lehrkräfte an den Charter Schools gewerkschaftlich zu organisieren und Tarifverträge für sie auszuhandeln.
Anschließend besuchen wir das „Dial a Teacher“ Zentrum, das Schülerinnen und Schülern von Montag bis Freitag zwischen 16:00 und 19:00 Uhr telefonische Hausaufgabenhilfe in zwölf verschiedenen Sprachen anbietet. Die am meisten nachgefragten Sprachen sind Spanisch und Chinesisch, „Problemfach“ ist Mathe und Ansprechpartner der Schüler sind freiwillige LehrerInnen der UFT. Der Tag endet mit einem abendlichen Dinner und informellen Gesprächen in geselliger Runde im UFT-Gebäude.