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Besuch aus Tokio

Die Inklusion behinderter Kinder in deutschen Schulen und der Ausstieg aus der Atomenergie standen im Mittelpunkt des Besuchs einer Delegation des Forschungsinstituts der Japan Teachers' Union (JTU) vom 4. – 7. März 2012 in Baden-Württemberg.

Foto: Manfred Brinkmann

Ein Jahr nach der Atomkatastrophe in Fukushima besuchte eine Delegation der japanischen Bildungsgewerkschaft JTU die Städte Freiburg und Stuttgart, um sich über den Atomausstieg in Deutschland sowie die Inklusion behinderter Kinder im Schulalltag zu informieren. Die JTU vertritt in Japan etwa 300.000 Mitglieder an Schulen, Kindertagesstätten und Universitäten. Welche Vorrausetzungen müssen erfüllt sein, damit Kinder mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten an Regelschulen unterrichtet werden können? Diese Frage beschäftigten die drei Frauen und zwei Männer der JTU beim Besuch dreier Schulen und bei ihren Gesprächen mit Lehrkräften, Schulleitungen und GEW-Vertretern. Wie in Deutschland wird auch in Japan intensiv über Inklusion diskutiert.

Bisher existieren in Japan nebeneinander Förderschulen, Regelschulen mit speziellen Klassen für behinderte Kinder und inklusive Schulen, in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. In Freiburg hatten die japanischen Gewerkschafter Gelegenheit zum Besuch der Anne-Frank-Grundschule, die erfolgreich behinderte und nichtbehinderte Kinder in altersgemischten Familienklassen unterrichtet, sowie der Förderschule Günterstal, deren Kinder und Jugendliche, je nach Grad der Behinderung, in fünf unterschiedlichen Leistungsgruppen unterrichtet werden. „Einige Kinder, die wir in der Schule Günterstal gesehen haben, würden in Japan wohl in Regelschulen unterrichtet“, erklärte der Leiter des JTU Forschungsinstituts Professor Masya Minei. Positiv sei, dass Eltern in Deutschland selbst entscheiden könnten, ob sie ihre behinderten Kinder auf eine Förderschule oder eine Regelschule schicken.

Auf Wunsch der Japaner fand in Freiburg auch ein Gespräch mit Ver.di-Gewerkschaftern aus Energieversorgungsunternehmen statt. „Wir wollen wissen, wie es in Deutschland gelungen ist, eine politische Mehrheit für den Atomausstieg zu gewinnen“, so die Generalsekretärin des JTU-Forschungsinstituts Hitomi Hara. „Die Katastrophe von Fukushima hat zwar in unserer Bevölkerung große Zweifel hervorgerufen, doch die Politik hält weiter an der Atomkraft fest.“

Auch in Deutschland sei die Entscheidung zum Atomausstieg nicht über Nacht gekommen, erklärte die Ver.di-Kollegin Gabriele Fieback, sondern ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten Anti-AKW-Bewegung. Den letzten Ausschlag hätte Fukushima gegeben. Für Ver.di bedeute der Atomausstieg einen Spagat, da die Dienstleistungsgewerkschaft sowohl Beschäftige in Atomkraftwerken wie auch in anderen Kraftwerken vertrete. In Stuttgart konnten die Japaner die Grund- und Werkrealschule Ostheim besuchen, eine Regelschule, in der auch gehörlose Kinder und solche mit Verhaltensauffälligkeiten unterrichtet werden. „Inklusion kann nur funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, erklärte Schulleiter Gerhard Menrad. „Man braucht mehr und qualifiziertes Personal, wenn behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollen.“ Auch die Baden-Württembergische GEW-Vorsitzende Doro Moritz betonte im Gespräch mit der japanischen Delegation, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu machen ist. „Viele Lehrkräfte in Regelschulen haben Angst vor zusätzlichen Belastungen und fühlen sich nicht ausreichend vorbereitet. Hier würde ich mir mehr Unterstützung von der grün-roten Landesregierung wünschen.“ Als überaus nützlich und sehr informativ bezeichneten die japanischen Gewerkschafter zum Abschluss ihrer Reise die Schulbesuche und den Austausch mit Lehrkräften und Gewerkschaftern. „Es gibt Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten zwischen Japan und Deutschland“, so das Resumee von Masya Minei. „Wir sollten den Austausch fortsetzen, denn wir können viel voneinander lernen.“