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Transformation der Sozialen Arbeit

Besser umeinander kümmern

Die Kleinstadt Sangerhausen in Sachsen-Anhalt hat sich mit einem preisgekrönten Bündnis zu einem Vorbild für Sozialarbeit in Kitas entwickelt. Ein Besuch in der Kita „Friedrich Fröbel“.

Jedes dritte Kind in der Kita „Friedrich Fröbel“ im sachsen-anhaltinischen Sangerhausen hat einen Migrationshintergrund. Die Einrichtung bietet daher besondere sprachliche Förderungen an, unterstützt durch das Bundesprogramm Sprach-Kitas. (Foto: Sebastian Willnow)

Eigentlich gilt Sangerhausen nicht unbedingt als Hotspot moderner Bildungsreformen: eine kleine Bergstadt am südöstlichen Rande des Harzes, rund 25.000 Einwohnerinnen und Einwohner, romantische Gassen und eine jahrhundertealte Kupfer-Zeche vor den Toren. 2022 aber wird das regionale Bündnis „Frühe Hilfen und Kita-Sozialarbeit“ mit einem zweiten Platz beim Deutschen Kita-Preis geehrt. Die Kita-Fachkräfte arbeiten hier Hand in Hand mit Sozialarbeiterinnen und Beratungsstellen. „Gemeinsam bauen sie Brücken zwischen der Kita und den Familien, erkennen frühzeitig, was die Kinder brauchen, und entwickeln passende Lern- und Freizeitangebote“, heißt es in der Laudatio. Mit dem Konzept ist Sangerhausen bundesweit ein Vorreiter: Das Bündnis wird unter 1.200 Einsendungen als beispielhaft herausgehoben.

Die Kita „Friedrich Fröbel“ am Gonna-Ufer ist einer der Orte des prämierten Netzwerks, sie wirkt äußerlich eher unscheinbar: ein zweigeschossiger DDR-Plattenbau von 1981, der zuletzt vor 25 Jahren saniert wurde. Seit Sommer 2019 betreut Sozialarbeiterin Kathrin Hellmuth hier die 130 Kita-Kinder und deren Familien – und unterstützt damit zugleich die 19 Erzieherinnen des Hauses. Jedes dritte Kind in der Kita hat einen Migrationshintergrund, elf Nationalitäten sind dabei. Die Einrichtung bietet daher besondere sprachliche Förderung an, die durch das Bundesprogramm Sprach-Kitas unterstützt wird.

Sozialarbeiterin Kathrin Hellmuth betreut 130 Kita-Kinder und deren Familien – und unterstützt damit zugleich die 19 Erzieherinnen der Kita „Friedrich Fröbel“ in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt. (Foto: Sebastian Willnow)

Viele Familien benötigen Unterstützung

In einigen Familien in ihrem Einzugsgebiet gibt es überdies Schwierigkeiten etwa wegen Suchtproblemen, schwerer Erkrankungen, Trennungen, Inobhutnahmen oder wegen des schwachen Bildungsniveaus der Eltern – ein großes Aufgabenfeld für Soziale Arbeit. „Ich bin gut ausgebucht“, sagt Hellmuth. Sie ist täglich ab 7.15 Uhr in der Kita und hat ihre Handynummer in der selbst gestalteten „Friedrich-Fröbel-Post“ veröffentlicht, einer kleinen Zeitschrift, die sie alle drei Monate erstellt. Hellmuth kennt das Metier aus dem Effeff. Die 53-Jährige hat einst eine Ausbildung zur Kinderdiakonin absolviert und später Soziale Arbeit studiert. Danach war sie in der sozialpädagogischen Familienhilfe und in einer Beratungsstelle des Kinder- und Jugendschutzes eingesetzt, ehe sie im Sommer 2019 in die Kita kam.

Auf ihrem wöchentlichen Stundenplan stehen unter anderem ein Sprachcafé für Eltern, dazu soziale Kompetenztrainings für die Kinder sowie Entspannungs- und Konzentrationsangebote besonders für die Kinder, die kurz vor der Einschulung stehen. Dazwischen geht die Sozialarbeiterin regelmäßig mit einigen Kindern zum Kletterfelsen des Deutschen Alpenvereins, zu Angeboten des benachbarten Sportvereins, in die Stadtbibliothek oder zur Ökologiestation. Mit den Ausflügen erfüllt sie viele Kinderwünsche und entlastet zugleich die Erzieherinnen in den festen Gruppen.

Während der Angebote entdeckt Hellmuth so manchen Frühförderbedarf bei Kindern und bietet den Familien Lösungswege an. Und sie führt viele Gespräche, denn sowohl Eltern als auch Kinder und pädagogische Fachkräfte kommen mit vielen Fragen zu ihr. Bei Bedarf vermittelt sie Dolmetscherinnen oder Dolmetscher sowie Kontakte aus ihrem großen Netzwerk, sie unterstützt Familien bei Behördengängen und Arztterminen und hilft beim Ausfüllen der Anträge etwa für Wohngeld, das Sozialpädiatrische Zentrum oder einen Zuschuss fürs Mittagessen. Seit Hellmuth in der Kita arbeitet, kommen deutlich mehr Kinder zum Mittagessen – vorher waren deren Eltern mit den Anträgen überfordert.

Die sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen an Kindertagesstätten seien heute viel größer als vor 20 oder 30 Jahren, sagt Ines Scheideck, Leiterin der Kita „Friedrich Fröbel“ in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt (Foto: Sebastian Willnow)

Anforderungen an Kindertagesstätten sind gewachsen

„Viele dieser Schwierigkeiten sehen wir natürlich auch“, sagt Kita-Leiterin Ines Scheideck. „Aber unser Team kann sie neben den täglichen Aufgaben allein nicht mehr lösen.“ Die sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen an Kindertagesstätten seien heute viel größer als vor 20 oder 30 Jahren. Und der Personalschlüssel für die Kinder, die sich eine pädagogische Fachkraft in Sachsen-Anhalt teilen müssen, sei bundesweit einer der schlechtesten. „Wir sind froh, dass wir nicht mehr allein mit den Problemen sind und sich alle besser umeinander kümmern können“, erzählt Scheideck, die das Haus seit 2010 leitet. „Die Familien schätzen es sehr, dass ihre Kinder in der Kita gut behütet sind.“

Das Angebot der frühen Hilfen und Kita-Sozialarbeit sei allerdings nicht für alle 118 Kitas im Landkreis Mannsfeld-Südharz gedacht und umsetzbar, betont Jugendamtsleiterin Sabine Schneider. Es gehe vor allem um Kitas, die vor besonderen Aufgaben stehen und einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. „Wir müssen schauen: Was brauchen die Kinder? Was brauchen die Eltern? Und was brauchen die Einrichtungen?“

„Jedes Kind sollte alle Entwicklungsmöglichkeiten bekommen. Kein Kind kommt mit einem vorgefertigten Lebensweg auf die Welt.“ (Sabine Schneider)

Die Kita-Sozialarbeit ist für Schneider ein emotionales Herzensthema, die 52-Jährige kennt schwierige Lebenswege junger Leute. Sie hat viele Jahre im Jobcenter gearbeitet und sich unter anderem um arbeitslose Jugendliche gekümmert. Seit 2018 ist sie im Jugendamt. Wenn man mit ihr über die Erfahrungen und Erfolge der Kita-Sozialarbeit spricht, steigen ihr manchmal Tränen in die Augen. „Jedes Kind sollte alle Entwicklungsmöglichkeiten bekommen. Kein Kind kommt mit einem vorgefertigten Lebensweg auf die Welt“, sagt Schneider. „Wir wollen ihnen mit den frühzeitigen Hilfen und Unterstützungen neue Türen öffnen.“ Es gehe darum, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen Chancen und Bildungsmöglichkeiten anzubieten, die sie sonst vielleicht nicht hätten oder nutzen würden. „Das Kollegium der ,Friedrich-Fröbel-Kita‘“, sagt die erfahrene Verwaltungsfachwirtin, „steht voll hinter diesem Projekt und versprüht einen tollen Teamgeist.“ Es brauche viele Unterstützerinnen und Unterstützer, damit so ein Projekt gelingen könne, darunter auch die Stadt Sangerhausen als Kita-Träger.

So startete die Initiative

Begonnen hat die Initiative vor gut sechs Jahren: Damals erfahren Schneider und ihre Jugendamtskollegin Sandra Gängel, die als Motor des Projekts gilt, von einem ähnlichen Kita-Vorhaben in einem anderen Bundesland. Daraufhin loben sie in Kooperation mit Netzwerkpartnern und durch Beschluss des Jugendhilfeausschusses einen Ideenwettbewerb aus, den das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) gewinnt. Mit dessen Konzept geht der Landkreis 2019 an den Start, das CJD stellt jeweils eine Sozialarbeiterin in Sangerhausen und in Eisleben ein. Diese betreuen zunächst jeweils zwei Kitas und entwickeln das Konzept mit den Praxiserfahrungen weiter. Ende 2023 stellen sie das Angebot gemeinsam um. Seither betreut jede Sozialarbeiterin eine Kita mit einer 35-Wochenstunden-Stelle. „Man braucht eine volle Fachkraft für jede Einrichtung“, sagt Schneider.

Arbeit gibt es mehr als genug. „Wenn man nur in einer Einrichtung tätig ist, sind mehr Verlässlichkeit, Präsenz und Ruhe bei der Betreuung möglich“, erzählt Hellmuth. Auch der Übergang zur Grundschule gelinge so besser. Vom Schulamt bekomme sie inzwischen sehr gute Rückmeldungen aus den Einschulungsuntersuchungen. „Die Schulärztinnen und -ärzte merken, wenn Kinder zum Beispiel durch Ergo- oder Logopädie besser auf die Schule vorbereitet sind.“

„Je früher eine Unterstützung beginnt, umso größer ist die Chance, dass ein Kind nicht in den Brunnen fällt.“

Der Landkreis lässt sich den Einsatz der Kita-Sozialarbeiterinnen bis zu 197.000 Euro im Jahr kosten. Ein Posten im knappen Haushalt, den Schneider verteidigen muss und will: „Wir brauchen präventive Leistungen und müssen dafür sorgen, dass die Zahnräder des Hilfesystems ineinandergreifen, um größere Schwierigkeiten in späteren Jahren zu vermeiden“, betont sie. „Je früher eine Unterstützung beginnt, umso größer ist die Chance, dass ein Kind nicht in den Brunnen fällt.“

Das Modell macht inzwischen im ganzen Landkreis Schule. Mittlerweile werden zehn weitere Kitas von Fachkräften für Soziale Arbeit unterstützt, finanziert vom Land Sachsen-Anhalt. „Wir sind auch landesweit ein Vorreiter“, so Schneider. „Ich frage mich, was die Kinder in ihrem Leben erwarten würde, wenn wir diese Angebote für die Familien nicht hätten.“