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Beamte dürfen streiken!

Zwei aktuelle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg haben den Grundstein für eine neue Ära der kollektiven Menschenrechte gelegt: Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) schützt das Recht auf Kollektivverhandlungen und das Streikrecht – vor allem auch für verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer.

Bahnbrechend ist das Urteil vom Ende des vergangenen Jahres. In dem Beschwerdeverfahren „Demir und Baykara gegen Türkei“ hat die Große Kammer am 12. November 2008 zunächst Grundsätze zur Auslegung der EMRK entwickelt: Sie muss anhand internationaler Normen interpretiert werden. Angewandt auf die Koalitionsfreiheit (Artikel 11 EMRK), das Recht der Arbeitnehmer, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zusammenzuschließen, bedeutet das: Die Vereinten Nationen (UN), die Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und der Europarat garantieren auch das Recht auf Kollektivverhandlungen. Der EGMR hat deshalb seine bisher sehr restriktive Rechtsprechung aufgegeben. Demnach steht Beamtinnen und Beamten grundsätzlich – vorbehaltlich rechtmäßiger Einschränkungen – ebenso wie anderen Arbeitnehmern das Recht auf Kollektivverhandlungen zu.

Bei der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR handelt es sich um ein Grundsatzurteil. Bemerkenswert dabei: Die Entscheidung erfolgte einstimmig. Offensichtlich war eine einheitliche Grundüberzeugung über alle Rechtstraditionen und -systeme hinweg vorhanden und wegweisend. Das alles hebt den besonders hohen Legitimationsgehalt des Urteils hervor.

Diesem Ansatz folgend hat der EGMR einige Monate später in einem weiteren Urteil gegen die Türkei („Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei“, 21. April 2009) anerkannt, dass auch das Streikrecht in Artikel 11 EMRK geschützt ist. Ein generelles Verbot des Beamtenstreiks stehe dazu im Widerspruch.

Schlusslicht Bundesrepublik

Mit der in Deutschland noch bestehenden Einschränkung der kollektiven Rechte von Beamtinnen und Beamten gerät das Land zunehmend in die Isolation: Denn immer mehr Staaten erkennen das Beamtenstreikrecht an; die Bundesrepublik bildet mit sehr wenigen anderen Ländern – wie der Türkei – das Schlusslicht. Doch solche absoluten Verbote geraten zunehmend in die Kritik internationaler Kontrollgremien – wie jetzt durch den EGMR.

Schon seit vielen Jahren haben vor allem der frühere Menschenrechtsausschuss der UN, der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Kontrollorgane der IAO sowie der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte deutlich gemacht: Bei einem Streikverbot für Beamte müsse nach den Aufgaben differenziert werden. Lehrkräften – unabhängig von ihrem Status als Angestellte oder Beamte – wird im Regelfall das Streikrecht ausdrücklich zugestanden.

Für die Bundesrepublik allgemein und für Lehrerinnen und Lehrer im Speziellen sind in dem Zusammenhang zwei Beschwerdeverfahren vor dem IAO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit wichtig. Sie wurden von DGB und GEW zum hessischen Lehrerstreik 1989 und zu den Verhandlungsrechten im Zusammenhang mit der landesgesetzlichen Verlängerung der Arbeitszeit für Lehrkräfte eingereicht. Die Gewerkschaften haben hier einen Erfolg verbucht: Sie erreichten die Anerkennung des Streikrechts sowie die Verhandlungsrechte für Lehrkräfte. Auf dieser Grundlage und aufgrund seiner eigenen Urteilspraxis kritisiert auch der IAO-Sachverständigenausschuss seit Jahrzehnten die zu weit gehenden Einschränkungen für Beamte in Deutschland.

Bei allen genannten Übereinkommen und Konventionen handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, die von der Bundesrepublik ratifiziert worden sind (Artikel 59 Grundgesetz). Sie haben daher einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter. Ganz besonders gilt dies für die EMRK, die durch das absolute Beamtenstreikverbot verletzt wird. Um Widersprüche zwischen völkerrechtlichen Vorgaben und innerstaatlichem Recht möglichst zu vermeiden, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das innerstaatliche Recht „völkerrechtskonform“ auszulegen (Leitentscheidung vom 14. Oktober 2004). Solange dies jedoch nicht der Fall ist, wird wohl erst ein Verfahren vor dem EGMR – über das Bundesverfassungsgericht hinaus – dazu führen, dass diese völkerrechtlichen Vorgaben beachtet und dementsprechend die Koalitionsfreiheit gemäß Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Richtlinien des öffentlichen Dienstes (Artikel 33 Abs. 4 und 5 GG) so ausgelegt werden, dass das uneingeschränkte Streikverbot für Beamte, die hoheitliche Aufgaben in einem engen Sinn wahrnehmen, aufgehoben wird.

Die Entscheidungen von Straßburg bedeuten hierzulande einen „menschenrechtlichen Durchbruch“ zugunsten kollektiver Rechte von Beamten, die man ihnen seit Jahrzehnten völkerrechtswidrig vorenthält. Jetzt müssen diese auf der zusätzlichen Grundlage der EGMR-Urteile umgesetzt werden.