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Queer in der Bildung

Bausteine für eine inklusive Schule

Trotz aller Fortschritte ist die schulische Praxis weit davon entfernt, allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung einen sicheren Raum und gleiche Entwicklungschancen zu bieten.

LSBTIQ*-Personen werden in der Gesellschaft immer sichtbarer, die Gleichberechtigung der Geschlechter schreitet voran und die heteronormative Geschlechterordnung, die auf Binarität, Hierarchie und der Annahme von Heterosexualität fußt, wird immer brüchiger. Die Akzeptanz für diese Umbrüche scheint bei der jüngeren Generation groß zu sein, und immer mehr Schüler*innen finden den Mut, sich auch in der Schule als queer zu zeigen.

Kinder und Jugendliche, die in ihrem Verhalten, ihrer Identität, ihrem Körper oder ihrer sexuellen Orientierung traditionellen Geschlechternormen nicht entsprechen, sind in der Schule allerdings auch heute noch massiven Diskriminierungen ausgesetzt (Klocke 2012; Klocke, Salden und Watzlawik 2020; Küpper, Klocke und Hoffmann 2017). Sie werden hierdurch stark belastet und unterliegen einem erhöhten Risiko für Depressionen, Ängste und Suizid.

„Lesbe“ und „Schwuli“ am häufigsten benutze Schimpfwörter

Nach Krell und Oldenmeier (2015) greifen fast 50 Prozent der Lehrkräfte nicht ein, wenn Schüler*innen geärgert werden, weil sie für LSBTIQ* gehalten werden. Während Begriffe wie „Lesbe“ und „Schwuli“ im schulischen Alltag zu den am häufigsten benutzen Schimpfwörtern gehören, bleibt die Realität queeren Lebens in hohem Maße unsichtbar, da es im Unterricht kaum vorkommt und queere Lehrkräfte sowie Schüler*innen sich aus Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung oft nicht als solche zu erkennen geben.

Wenn Lehrkräfte Fachwissen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt haben und das Thema schulrechtlich festgeschrieben ist, trägt dies nachweislich zu mehr Akzeptanz bei. Dies bedeutet, dass die strukturelle Verankerung zum Beispiel in Lehr- und Bildungsplänen, in Schulprogrammen und Unterrichtsmaterialien sowie die Fortbildung der Lehrkräfte relevante Maßnahmen sind, um dem Bildungsauftrag gerechter zu werden.

Fortbildungen in den Ländern

Mehrere Bundesländer haben inzwischen entsprechende staatliche Fortbildungen etabliert. So wurde das Thema „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ beispielsweise in Nordrhein-Westfalen in einem neuen Fortbildungserlass zum Bereich „geschlechtersensible Bildung“ fest verankert. Das bundesweite Antidiskriminierungsprogramm „Schule der Vielfalt“ bietet die Möglichkeit, sich zu vernetzen, „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ strukturell zu verankern und Fortbildungen abzurufen. Nicht zuletzt hat die GEW sowohl auf Bundesebene als auch in den Landesverbänden das Thema auf der Agenda und bietet Fortbildungen und Materialien an.

Inhaltlich sind in der konkreten schulischen Arbeit fünf Handlungs- und Aufgabenfelder von zentraler Bedeutung (Palzkill, Pohl und Scheffel 2020, 39-82):

  • LSBTIQ* sichtbar machen:

Es gibt zahlreiche Maßnahmen, die dazu beitragen, die Realität queeren Lebens und dessen Akzeptanz im schulischen Raum sichtbarer zu machen, zum Beispiel durch: das Aushängen von Plakaten, Hinweise auf spezifische Beratungsangebote, entsprechende Bücher in der Schulbibliothek, Projekttage, Aktionen am internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie.

  • Grenzen setzen gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt:

Neben der Wahrnehmungs- und Handlungsbereitschaft sowie der Durchsetzungskompetenz der einzelnen Lehrkräfte bedarf es eines schulischen Antidiskriminierungskonzepts, in dem insbesondere gemeinsame Handlungsstrategien des Kollegiums und Ansprechpersonen verankert sind.

  • Genderkompetente Beratung anbieten:

Lern- und Verhaltensauffälligkeiten stehen – auch wenn dies zunächst wenig offensichtlich ist – nicht selten in Zusammenhang mit inneren Konflikten und Diskriminierungen, die Schüler*innen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung erfahren oder befürchten. Für die schulische Beratungsarbeit ist es wichtig, dass Lehrkräfte für diese Zusammenhänge sensibilisiert und spezifisch qualifizierte Ansprechpartner*innen bekannt sind.

  • Trans*, inter* sowie nicht-binäre Schüler*innen unterstützen:

Wenn sich Schüler*innen als trans*, inter* oder nicht-binär outen, führt das oft zu Unsicherheiten und stellt die Schule vor spezifische Anforderungen. Im Vorfeld festgelegte verbindliche Standards geben allen Beteiligten mehr Handlungskompetenz und Sicherheit.

  • Vielfalt im (Fach-)Unterricht reflektieren, abbilden und gestalten:

Der Unterricht und die Lehrmaterialien sollten die Vielfalt der Geschlechter und sexuellen Orientierungen selbstverständlich repräsentieren, statt ausschließlich die binäre, hierarchische Geschlechterordnung zu spiegeln. Darüber hinaus gilt es „Prinzipien der Unterrichtsgestaltung“ zu beachten, beispielsweise die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache, das Vermeiden einer Polarisierung zwischen den vermeintlich „Normalen“ und den „Anderen“, die Beachtung der geschlechtlichen Diversität der Lerngruppe, die Differenzierung zwischen Meinungsäußerung und Diskriminierung.

Die bisherigen Ansätze zur Entwicklung einer geschlechterinklusiven Schulkultur sollten weiter ausgebaut und gefördert werden. Das ist nicht nur im Interesse der LSBTIQ*-Schüler*innen, sondern auch ein wesentlicher Baustein einer inklusiven Schule, in der sich alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion, geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit und sozialem Hintergrund umfassend und selbstbestimmt entfalten können. 

Brigitte Palzkill und Heidi Scheffel arbeiten wissenschaftlich und praktisch in der geschlechterbewussten und queeren Bildungsarbeit. Von den beiden erschien zuletzt (zusammen mit Frank G. Pohl) das Buch „Diversität im Klassenzimmer. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht“, Cornelsen-Verlag 2020.

Weitere Literatur: gew.de/ew-6-23

Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen sind bislang nicht unter den Schutz des Artikel 3 des Grundgesetzes gestellt. Nach der Bundestagswahl 2021 haben sich queere Menschenrechtsorganisationen unter dem Motto: „Grundgesetz für alle!“ zu einer Initiative zusammengeschlossen. Diese fordert unter anderem eine Erweiterung des Artikel 3, um die sexuelle und geschlechtliche Identität aller Menschen zu schützen, sowie ein Selbstbestimmungsgesetz, durch das es trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen erleichtert werden soll, den Geschlechtseintrag beim Standesamt ändern zu lassen. Im April legte die Bundesregierung einen Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz vor; dieses soll noch vor der Sommerpause vom Bundeskabinett verabschiedet werden.

Auf ihrem Gewerkschaftstag 2022 in Leipzig hat sich die GEW ebenfalls für die Erweiterung von Artikel 3 des Grundgesetzes um den Schutz vor Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ausgesprochen. Die Delegierten des Gewerkschaftstages forderten zudem in der Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen verpflichtende Module, in denen die Gleichwertigkeit sexueller und geschlechtlicher Identitäten und die dazu nötigen Grundbegriffe und Handlungsstrategien vermittelt werden.                    

Jürgen Amendt, Redakteur „Erziehung und Wissenschaft“