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LesePeter Juni 2023

Auszeichnung für den Jugendroman „Stolpertage“

„Stolpertage“ von Josefine Sonneson erzählt vom Verändern und Wachsen, Vergessen und Erinnern. Der Titel dieses etwas anderen Adoleszenzromans ist dabei Programm.

Die Protagonistin lernt, dass auch nach schmerzlichen Veränderungen wieder Gutes entstehen kann. (Cover: Carlsen Verlag)

Jette ist 13 und steckt dazwischen. Zwischen Umzugskisten, die sie eigentlich packen sollte, zwischen ihren Eltern, die nur noch auf alten Fotos nah beieinander stehen, zwischen leuchtenden Erinnerungen an Opa und den letzten Besuchen, die immer blasser werden. Sie würde gern etwas festhalten, am liebsten sich selbst. Stattdessen stolpert sie mitten hinein in einen Frühling, der nach Erdbeeren und Aufbruch schmeckt, und in dem sie lernt, dass auch nach schmerzlichen Veränderungen wieder Gutes entstehen kann.

Die AJuM zeichnete den Jugendroman übers Verändern und Wachsen, Vergessen und Erinnern mit dem LesePeter des Monats Juni aus.

Völlig unvorbereitet gerät Jettes Leben ins Wanken: Ihre Eltern haben sich getrennt, ihre Schwester will nach dem Abitur eigene Wege gehen, ihre beste Freundin Walli ist in eine andere Stadt gezogen und gleichzeitig leidet ihr Großvater an Demenz. Obwohl die 13-jährige Ich-Erzählerin deshalb durch ihren Alltag taumelt, gelingt es ihr dennoch, die freudvollen Details ihres Umfelds wertzuschätzen. Sie ereignen sich meist zufällig nebenbei und sorgen doch für die notwendige Stabilität.

Der Titel dieses etwas anderen Adoleszenzromans ist Programm: Weil die Abschiede, Umbrüche und Veränderungen sich in Jettes Leben in rasanter Abfolge häufen, wirkt die Protagonistin von den Ereignissen mitunter aus den gewohnten Bahnen geworfen und scheint – berechtigterweise – das Gleichgewicht zu verlieren. Mit der Trennung der Eltern steht nämlich auch ein Umzug aus dem Familienhaus in eine kleinere Wohnung bevor. Die große Schwester, bisher feste Bezugs- und Orientierungsperson, wird dort allerdings eher als Teilzeitbewohnerin eingeplant. An die Stelle des eigenen Vaters soll plötzlich Hannes treten, der neue Partner der Mutter, der vergeblich versucht, väterliche Nähe aufzubauen. Obwohl Jette mit diesen Aufgaben der Konfliktbewältigung bereits gut ausgelastet ist, begleitet sie parallel und scheinbar selbstverständlich ihren Großvater, der zunehmend an Demenz leidet und schließlich verstirbt. Er galt der Protagonistin bisher nicht nur als prägender Mentor, sondern auch als erste Ansprechperson bei allen erlebten Entwicklungsschritten und Turbulenzen.

Viel Raum und Zeit für exzessive Selbstverwirklichung und jugendlichen Leichtsinn im Kontakt mit der Außenwelt bleibt der Heranwachsenden also nicht. Die sich entwickelnde Freundschaft zu Ida aus der Theatergruppe und der sonst so hochgeschätzte Ferienbeginn ereignen sich fast ganz nebenbei. Der eigentliche Plot des Romans spielt sich in Jettes Innerem ab. Reflektierend kommentiert die Jugendliche ihre Gefühle darüber, dass sie sich von der Idee einer heilen Familie verabschieden und fortan neue Wege gehen muss. Mit reichlich Gespür für jedes kleine Indiz des Miteinanders beobachtet die Protagonistin dabei ihr familiäres Umfeld sowie alle damit verbundenen Umbrüche und verarbeitet ihre Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen. Sie analysiert nicht nur die verschiedenen Arten von Beziehungen, sondern wägt auch ab, worauf es im Leben ankommen könnte. Ängste und Sorgen erhalten genauso viel Zuwendung wie die kleinen Alltagsüberraschungen.

Jette vernachlässigt niemals den Wert der vielen unscheinbaren Momente, die ihr die Kraft geben, beim Stolpern eben nicht die Balance zu verlieren. Das Motiv des Lebensfadens aus der griechischen und römischen Mythologie zieht sich dazu nicht nur wortwörtlich, sondern auch typografisch durch den ganzen Roman. Unausgesprochene Gedanken hängen beispielsweise wie Erklärfäden in der Luft; beim Tod des Opas kann man den Linien und Bedeutungskreiseln des Moments nicht ausweichen. Im Druckbild erscheinen sie als geschwungene Linien, die die einzelnen Kapitel voneinander trennen und den Knäul, der auf dem Buchcover abgebildet ist, sukzessiv aufzudröseln versuchen. 

Jettes Erlebnisse und Emotionen bringt Sonneson vor diesem thematischen Hintergrund mit einer sprachlichen Kreativität zum Ausdruck, die immer wieder erkennen lässt, dass Trauriges und Schönes durchaus gleichzeitig passieren können und dass das Leben eine bunte Mischung aus verschiedenen Gefühlen bereithalten kann. Diese ertragen und sortieren zu können, gehört wohl zu einer der wichtigsten Aufgaben beim Erwachsenwerden. Denn im Gegensatz zu einem Axolotl – den mexikanischen Schwanzlurch führt Sonneson immer wieder als Sinnbild für den Kreislauf des Lebens an – wachsen abgebrochene Teile des Menschseins eben nicht ersatzlos nach. Das zeigt sich insbesondere bei dem im zweiten Romanteil prominent und trotzdem duldsam gestalteten Prozess der Sterbebegleitung.

Weil diese Elemente der Endlichkeit so explizit gestaltet werden, können sie nicht nur für jugendliche Leserinnen und Leser Entwicklungsmöglichkeiten während und nach der Lektüre bedeuten. Die intensiven Bilder, die die junge Autorin auch mit zahlreichen Neologismen entstehen lässt, sorgen für eine ergreifende Stimmung und machen mehr als wett, dass im Vergleich zu anderen Jugendbüchern das Erzählte eben nicht durch handlungsreiche Szenen zum Ausdruck gebracht wird, sondern vielmehr durch das programmatische Ausbalancieren eines jugendlichen Alltagslebens. 

Die Autorin

Josefine Sonneson, 1994 in Düsseldorf geboren, wuchs in einer Patchworkfamilie mit vielen Geschwistern auf. Heute lebt sie in Hildesheim in einem Hausprojekt am Waldrand und ist ansonsten am liebsten in Italien. Nach einem Grundstudium der Philosophie studiert sie nun Literarisches Schreiben und Lektorieren. „Stolpertage“ ist ihr Debüt.

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Josefine Sonneson, „Stolpertage“, Hardcover, 176 Seiten, Carlsen, Hamburg: 2022, ISBN 978-3-551-58462-5, 14 Euro, ab 12 Jahren