LesePeter August 2024
Auszeichnung für das Bilderbuch „Regentag“
Es ist einer dieser Regentage, an denen man nur zu Hause sein kann, weil es wie aus Eimern schüttet. Was also tun? Die zwei Hauptfiguren aus Jens Rassmus' textlosem Bilderbuch zeigen, wie man die Welt mithilfe von Imagination erkunden kann.
In diesem Bilderbuch treffen Realität und Vorstellungswelt in einem spielerischen Dialog aufeinander. Gemeinsam mit den Hauptfiguren reisen wir mithilfe verschiedener Spielszenarien in unterschiedlichste Fantasiewelten. Während die zwei Kinder in ihrem Spiel in schwarzen Outlines abgebildet sind, entfaltet sich ihre Imagination und Spielwelt in voller Farbe. Dabei bedarf es in der dargestellten Wirklichkeit lediglich eines Balls, Farbtopfs und Wassereimers. Das Beste daran ist, dass am Ende der vielen Spielübungen, die Farbe aus der Imagination in der Wirklichkeit verbleibt.
Daher geht der LesePeter des Monats August 2024 an Jens Rassmus für das Bilderbuch „Regentag“.
Über die Vorstellungskraft
Es regnet und es scheint zunächst sehr langweilig zu werden. Wir sehen zwei Hauptfiguren, vermutlich Geschwister, evtl. Nachbarskinder und/oder Freund*innen, die dieses Vakuum mit einer Spielkonsole und den eigenen Gedanken füllen. Sie blicken durchs Fenster nach draußen. Ein neben ihnen liegender Ball wird zu einem Requisit, das die Spielhandlung der beiden Figuren in Gang setzen wird. Auf den Kopf gesetzt, rollt dieser in ihrer Imagination als Kugel von einer mit Schnee bedeckten Bergspitze hinab und landet Wasser spritzend in einer Gumpe.
Nun entwickeln sich rasant neue Vorstellungen, die von den beiden mit den einfachsten Mitteln nachgespielt und in ihrer Imagination in farbenprächtigen Welten inszeniert werden. Von einer Berglandschaft verwandelt sich die imaginierte Welt in einen Laubbaum, der vor Regen und Sonne schützt. Anschließend schrumpfen die Protagonist*innen so klein, dass sie über Pilzhüte spazieren, an kleinen Ästen hangeln und auch auf dem Rücken von Käfern durch die Lüfte fliegen können. Aber auf einen Stuhl gestellt, vergrößern sie sich nicht nur, sondern ändern auch ihre Perspektive. Malfarbe gibt den Figuren die Möglichkeit, sich selbst in gefährliche Raubkatzen verwandeln zu können, und ein Eimer wird zu einem Brunnen, der zugleich ein Zugang in ein unterirdisches und fantastisches Reich ist.
Die Darstellungen zeigen, welche Kraft das Spiel, das von der UN-Kinderrechtskonvention als ein Kinderrecht herausgehoben wurde, haben kann. Über die aktive Gestaltung der Umgebung werden herausfordernde Situationen in Probehandlungen bewältigt und die Selbstwirksamkeit angeregt. Dass das Spiel dabei Regeln hat, zeigt auch dieses Bilderbuch, wenn beim Spiel mit dem Farbtopf, die Farbe zwar zunächst überall landet, diese aber wieder weggewischt werden muss.
Parallelwelten mit Verbindung
Jens Rassmus markiert schon in der Wahl der gewählten Illustrationsart zwei miteinander agierende Parallelwelten, nämlich die wirklichkeitsnahe Welt und die Vorstellungswelt. Während die wirklichkeitsnahe Welt der zwei Hauptfiguren mit Tusche gezeichnet ist, gestaltet sich die Vorstellungswelt in einer breiten Farbpalette in Acryl. Auf zwei unterschiedlichen Erzählebenen, die über die Imagination der Hauptfiguren miteinander verbunden werden, zeichnet Rassmus ein Modell für die Konstruktion von Vorstellungswelten. Fragen wie
- „Was würde ich gern sein?
- Was möchte ich machen?
- Wo möchte ich sein?
- Wie möchte ich sein?
- Wohin möchte ich auf welche Weise gelangen?“
sind Fragen, die für die Hauptfiguren Spielszenarien gestalten, aber auch die Figuren des Bilderbuchs entwickeln und ihre Erzählgeschichte selbst bestimmen.
Die unterschiedlichen Ebenen, auf denen der Autor und Illustrator hier nur mit Bildern erzählt, präsentiert damit ebenso vielfältige Dimensionen, wie sie spielerisch von den Hauptfiguren genutzt werden. Der Eindruck, dass dem auch ein Weltenmodell zugrunde liegt, wird in der Wahl der unterschiedlichen Illustrationsformen unterstützt. Wenn die Schwarz-Weiß-Figuren in einem Waldbodenszenario hineingesetzt staunen, auf den Rücken eines roten Käfers klettern oder Straßen zwischen bunten Bauklötzen ablaufen, wird die Konstruktionsmöglichkeit von Fantasiewelten deutlich. Als die Hauptfiguren dann allerdings mit der als Schminke genutzten Farbe bei ihrer kompletten Verkörperung von Raubkatzen unterstützt werden, verschmelzen beide Illustrationsebenen.
Die schwarzen Outlines verschwinden und die Hauptfiguren finden sich in Acryl in der Savanne wieder, um sich sogleich wieder auf weißem Hintergrund hin zu schwarzen Outlines zurückzuverwandeln. Letztendlich hinterlässt, was im Spiel passiert, auch einen nachhaltigen Eindruck in der dargestellten Realität. Und so zeigt der Himmel in der sonst nur in schwarzer Tusche gezeichneten Realität, beeindruckende Wolkenformationen in Blau und Rosa. Erschienen ist die Hommage ans kindliche Spiel und an die Kraft der Vorstellung im Bilderbuchformat im Peter Hammer Verlag.
Der Autor/Illustrator
Jens Rassmus, geboren 1967, illustriert und schreibt seit vielen Jahren Kinderbücher und erhielt zahlreiche Auszeichnungen dafür, wie z. B. mehrfach den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. 2022 und 2023 war er für den Astrid Lindgren Memorial Award nominiert.
Das Bilderbuch „Regentag“, sein erstes textfreies Bilderbuch, wurde 2024 bereits mit dem Lesekompass ausgezeichnet. Rassmus lebt mit seiner Familie in Kiel, wo er an der Muthesius Kunsthochschule als Lehrbeauftragter für Illustration tätig ist.
Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.
Jens Rassmus, Regentag, Wuppertal: Peter Hammer, 2024, ISBN: 978-3-7795-0726-0, 20 Euro, 64 Seiten, ab 4 Jahre