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LesePeter April

Auszeichnung für das Bilderbuch „Ich bin wie der Fluss“

Der Lesepeter des Monats April geht an „Ich bin wie der Fluss“ von Jordan Scott und Sydney Smith - ein beachtenswertes Buch mit einem wichtigen Thema und einer ergreifenden Darstellung in Bild und Text.

Aus der Ich-Perspektive erzählt der Autor von einem Jungen, dessen Alltag von seinem Stottern stark beeinflusst wird.

Ein Junge verzagt wegen seines Stotterns in der Schule. Am Nachmittag mit dem Vater am Fluss fühlt er endlich seine Kraft und kann zu sich kommen. Kurze Texte, geprägt von rhythmischen Wiederholungen, und Bilder voller Bewegung veranschaulichen Gedanken und Gefühle eines Heranwachsenden, der gewohnt ist, um jedes Wort zu ringen. Dafür vergab die Jury den LesePeter für den Monat April. 

Wenn Menschen nicht in der Lage sind, Worte und Sätze flüssig zu sprechen, rufen sie oft Unverständnis oder Mitleid bei ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern hervor. Die Angst vor den Reaktionen anderer wird zum Verstärker des Problems. Doch durch die Veranschaulichung der Gedanken des Protagonisten wird den Leserinnen und Lesern geholfen, sich einzufühlen und somit besser zu verstehen.

Ein beachtenswertes Buch mit einem äußerst wichtigen Thema und seiner ergreifenden Darstellung in Bild und Text.

Geschichte und Figuren

Aus der Ich-Perspektive erzählt der Autor von einem Jungen, dessen Alltag von seinem Stottern stark beeinflusst wird. Schon beim Aufwachen wird klar, dass die Begriffe für die Dinge um ihn herum, ob Baum, Krähe oder Mond, klanglich im Mund stecken bleiben und er die Wörter dafür nicht über seine Lippen bringen kann. Still und wortlos beginnt er deswegen den Tag. Aber in der Schule geht das nicht. Da kommen die Fragen des Lehrers, die Blicke der Mitschülerinnen und Mitschüler und seine Angst.

Zwischen Close-ups und kleinformatigen Porträts visualisiert sich seine Eigenwahrnehmung und der Blick auf sein Umfeld. Vereinnahmt und gehemmt von den nicht auszusprechenden Wörtern, legen sich die Begriffe in Aquarellfarben über sein Profil und lassen ihn verschwinden. Hilfe kommt von seinem Vater. Zusammen fahren beide an den Fluss, Schweigen, Staunen und Tauchen ein. „Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist, wie du sprichst. Das bist du.“

Die einfühlsame Vaterfigur wirkt wie ein Anker in der Geschichte. Illustrativ im Hintergrund, bietet er seinem Sohn nicht nur Rückhalt und einen Ruhepol im Alltagsstress, sondern Orientierung. Mithilfe der Fluss-Analogie ermöglicht er seinem Sohn, sich selbst anzunehmen und Strategien zu entwickeln.

So schön, so wild, so vorwärts drängend!

Der Text hinterlässt beim ersten Lesen einen etwas spröden Eindruck. Wiederholungen fallen auf, lassen beim Lesen stocken, bis ein Auf- und Abschwellen deutlich wird – ein Rhythmus, der Bilder entstehen lässt. Zu allem, was der Junge sieht, gehört ein Wort mit einem ganz bestimmten Klang. Sein Kopf ist voll von solchen Eindrücken. Mit lautmalerischen Verben und bildgewaltigen Vergleichen verdichtet der Autor sprachlich, wie es sich für den Protagonisten anfühlt, nicht aussprechen zu können, was er will.  Am Fluss findet er aber wohltuende Entsprechungen für seine Gefühle.  Dort, wo zuvor noch der Rachen krächzte und ein Baum zwischen den Lippen wuchs, tritt nun ein Sprudeln, Wirbeln, Gischten und Vorwärtsdrängen. Der Junge ermächtigt sich des Bildes, das ihm der Vater gibt und wiederholt es bestärkend wie ein Mantra: Ich bin wie der Fluss.

Kraftvoll gemalte Illustrationen

Die Illustrationen führen des Jungen Gefühlswelt greifbar vor Augen. Ganz klar und leuchtend werden diese durch deutliche Umrisse und kontrastreiche Farben, wenn der Junge seine Umgebung ansieht und den Klang der Worte erfasst. Undeutlich und verschwommen werden sie durch ineinanderlaufende Aquarellzeichnungen, wenn die Angst kommt und die Sicht behindert. Dann sitzt da nicht irgendein Junge und starrt in die Ferne. Dann könnte man selbst es sein oder ein Freund.      

Feinheiten wie die Mimik der Figuren sind im groben Pinselstrich kaum zu erkennen. Aber der Farbklang, die gemalte Struktur und die Dichte des Farbauftrags sprechen ausdrucksstark über die Gefühlslage des Protagonisten. Durch Farbe und Struktur wird auch das Wasser am Flusslauf      lebendig. Es sprudelt, wirbelt, gischtet und drängt vorwärts. Und es schillert und glitzert und hat eine Kraft und Tiefe, die beeindruckt, aber beim Schwimmen auch trägt – so wie auch die Fähigkeiten, die nicht vom Stottern beeinträchtigt werden, und den Protagonisten bestärken.

Als ausklappbare Doppelseite zeigt der Fluss dann, wie er Grenzen überschreiten kann – auch die des Buches. Aus der Begrenztheit des Buchformats eröffnet sich eine weite Flusslandschaft. Erst mitten im Fluss stehend, bewegt sich der Junge dann mit jeder weiteren Seite und jedem weiterem Armzug/jeder weiteren Schwimmbewegung versiert im Wasser. Ein Buch, das auf allen Erzähldimensionen Strategien aufzeigt und Hoffnung gibt.

Der Autor

Jordan Scott ist ein mehrfach ausgezeichneter kanadischer Dichter. 2008 veröffentlichte er eine Gedichtsammlung mit dem Titel „Blert“, die von seinem lebenslangen Kampf gegen das Stottern inspiriert war. In einem sich an die Erzählung anschließenden Autorentext äußert er sich zur persönlichen Nähe zu seinem Protagonisten. Er selbst musste lernen, das Stottern als eine Seite seiner Persönlichkeit zu akzeptieren.

Der Illustrator

Sydney Smith zeichnet seit früher Kindheit, die er in Nova Scotia in Kanada verbracht hat. Sein Bilderbuch „Unsichtbar in der großen Stadt“ wurde 2021 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Halifax, Kanada.

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Jordan Scott/Sydney Smith: Ich bin wie der Fluss, Übersetzung aus dem Englischen: Bernadette Ott, Stuttgart: Aladin in Thienemann/ Esslinger, 2021, 44 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahren

Die Auszeichnung LesePeter wird monatlich vergeben von der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW.