LesePeter April 2025
Auszeichnung für das Bilderbuch „DANKE“ von Icinori
Das Duo Icinori interpretiert das Prinzip des Wortbilderbuchs neu, indem es auf jeder Seite einem Objekt aus unserem Alltag dankt, das durch unsere Gewohnheit unsichtbar geworden ist. So entsteht nach und nach eine spannende Geschichte.
Es gibt Dinge, deren Gebrauch für uns so alltäglich ist – Räume und Umgebungen – an die wir uns so gewöhnt haben, dass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen. An diesem Punkt setzt „DANKE“ des Künstler*innenduos Icinori an und ruft mit einer experimentellen Darstellung der uns umgebenden (Ding-)Welt Neugier, Staunen, Genuss, bisweilen aber auch Irritation hervor. Scheinbar assoziativ werden Objekte und Räume grafisch inszeniert und narrativ miteinander verbunden, um Rezipient*innen einzigartige Möglichkeiten zu geben, mit einem neuen Blick auf die Welt zu schauen. Mit der bewussten Reihung sowie einem schlichten „Danke“ an die Dinge des Alltags entwickelt sich eine Abenteuergeschichte, die durch vielfältige Situationen, Landschaften, Jahreszeiten – insbesondere aber Reiseszenarien – führt.
Spielerisch in die ästhetische Dingwelt eintauchen
Es beginnt am Morgen. Aus den Grundfarben Gelb, Rot und Blau formt sich ein Hahn. In jedem Bild erscheinen weitere Objekte, denen im Schrifttext gedankt wird: ein Haus, ein Wecker, ein Bett. So eindeutig die dargestellten Dinge zu identifizieren sind, so vielfältig sind ihre visuellen Eindrücke durch die besonderen grafischen Strukturen. Seite für Seite können die Objekte und Figuren erneut miteinander in Beziehung gesetzt und deren Bedeutung reflektiert werden, sodass Rezipient*innen jeden Alters spielerisch in die ästhetische Dingwelt eintauchen können.
Das Buch bietet Raum für sinnliche Erfahrungen, Kontemplation, Entdeckungen, Spannung und Anschlussgespräche. Es offenbart bei jeder Re-Lektüre neue Details und bietet eine große Bandbreite an Einsatzfeldern: als Benennbilderbuch für Kleinkinder, als eines der ersten seitenumfangreichen Bücher zum Selbstlesen, als literarischer Gegenstand zum Erzählen in der Grundschule, als Ausgangspunkt für philosophische Gespräche oder einfach als Bilderbuch, das genießend rezipiert werden kann.
Deshalb geht der LesePeter des Monats April an das Duo Icinori für das Bilderbuch „DANKE“.
Wenige Worte – DANKE ...
„DANKE WECKER, DANKE BETT, DANKE MORGEN, DANKE AUGE, DANKE SEIFE, DANKE DUSCHE, DANKE HANDTUCH, DANKE WÄRME, …”
Was hier zunächst als bloße Aufzählung erscheint, entpuppt sich in der Sukzession als eine Morgenroutine. Doch warum dafür dankbar sein? Diese Frage schwebt indirekt über jeder Doppelseite und gibt den Rezipient*innen implizit den Auftrag, über Dinge und Zusammenhänge nachzudenken, die so selbstverständlich sind, dass wir sie manchmal kaum noch wahrnehmen.
In dem Nacheinander von Danksagungen wird eine Hauptfigur des 176 Seiten umfassenden Buches begleitet, die durch die reduzierte Darstellung hochgradig unbestimmt bleibt. Somit bietet sie in jeder Situation, in die sie gerät, neue Identifikationsmöglichkeiten. Während zu Beginn des Buches mit der Abbildung eines Morgens eine dichte Zeitfolge vorherrscht, weiten sich die zeitlichen Dimensionen im Verlauf der Abfolge. Die Hauptfigur erhält eine geheimnisvolle Überraschung, in der sich ein Plan – ähnlich einer Schatzkarte – befindet: „Danke Verheißung”.
So wird gepackt, was für ein Abenteuer nötig sein könnte und die Reise zu Fuß, per Rad, Bahn, Bus, Flugzeug, Floß oder lebensrettend mit dem Fallschirm nimmt seinen Lauf. Auf einer Vulkaninsel angekommen, durchschreitet die Figur ein Labyrinth aus Höhlen und Gängen, bis sich im Licht ein Schatz aus Grundformen und Grundfarben eröffnet und sich aus einer Spiegelung eine zweite Figur herauslöst. Und so ist die Reise an den geheimnisvollen Ort auch eine Reise zu sich selbst. Mit unzähligen farbenfrohen Erinnerungen im Gepäck machen sich die beiden wieder auf den Weg nach Hause.
Wäre diese Begegnung ohne alle Unwegsamkeiten auf der Reise möglich gewesen? Über das „Danke” auf jeder Doppelseite wird angeregt zu reflektieren, warum es sich lohnt, in genau diesem Moment, genau diesem Gegenstand oder dieser Situation zu danken. Auf diese Weise verschwimmen die Grenzen zwischen Zufall und Bestimmung. Kleinigkeiten werden unschätzbar wichtig und es stellt sich die Frage nach dem Zauber oder Abenteuer im Alltäglichen.
Wären diese philosophischen Fragestellungen ohne den Text möglich gewesen? Vielleicht im Ansatz. Es zeigt sich jedoch, dass gerade in der Reduktion auf das „Danke” Leerstellen entstehen, die die Rezipient*innen zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte und den dargestellten Phänomenen anregen. DANKE WORTE!
Poetische Bildwelten – DANKE...
Die Bildwelt des Buches entwickelt sich aus den Grundfarben Gelb, Blau und Rot. Der erste Dank gilt ihnen, wodurch das Buch darauf hinweist, wie es gestaltet wurde: mit einem dreifarbigen Siebdruck, teilweise koloriert mit Tusche und einer digitalen Nachbearbeitung. Auf manchen Seiten werden zusätzlich schwarze Akzente gesetzt, um einzelne Elemente hervorzuheben oder die Leuchtkraft der Farben zu erhöhen. Aus klar abgegrenzten Flächen und grafischen Strukturen ergeben sich Objekte, Räume, Landschaften und Figuren. Sie sind auf die wesentlichen Formen reduziert, mit denen das Buch auf der Schatzinsel schließt.
In der Abgrenzung und Überlappung von Flächen entsteht ein spannungsvolles Spiel aus Farben und abstrakten Formen, die im Zusammenwirken zu ikonischen Formen verschmelzen. Auf diese Weise offenbart sich den Rezipien*innen nach jedem Umblättern ein neuer, einzigartiger visueller Eindruck. Die wenigen Wörter fügen sich typografisch geschickt in die Bilder ein und ergeben damit ein stimmiges Gesamtkunstwerk.
Trotz der Reduktionen und der wenigen Farben sind die Bilder äußerst vielfältig angelegt. Die Bandbreite reicht von Bildern mit zwei zentralen Formen und Farben (z. B. Hand und Ei – „Danke Ei”) bis hin zu kleinteilig und farblich wie strukturell vielfach differenzierten Landschaften und Orten mit ihren Lebewesen (z. B. die Marktszenerie – „Danke Markt” und „Danke Dinge”). Der Fokus der Bilder liegt auf den Dingen, den Formen und Strukturen der Dinge und ihrer Beziehung zu anderen Dingen.
Die Hauptfigur spielt optisch eine untergeordnete Rolle und muss teilweise im Formengewimmel erst entdeckt werden. Trotzdem hat sie in ihrer einfachen, silhouettenhaften Darstellungsform einen hohen Wiedererkennungseffekt und leitet die Rezipient*innen gleich einem roten Faden durch die Narration. Inwieweit die Bilder als Einzeldarstellungen genießend betrachtet und erkundet oder miteinander inhaltlich verknüpft werden, liegt letztlich im Auge und in der Verantwortung der Betrachter*innen. Mit farblichen, thematischen und formalen Leitmotiven und Wiederholungen wird durch die Bildebene dazu jedoch eine explizite Einladung ausgesprochen. DANKE BILDER!
Das Duo Icinori
Hinter Icinori verbirgt sich ein französisches Duo: Mayumi Otero (*1985) und Raphael Urwiller (*1984). Sie arbeiten seit ihrem gemeinsamen Studium an der Hochschule der Bildenden Künste in Straßburg zusammen als Autor*innen, Zeichner*innen und Künstler*innen, verlegen aber ihre Werke teilweise auch selbst.
Sie stehen für experimentelle und literar-ästhetisch faszinierende Werke und arbeiten für Zeitschriften (z.B. Le Monde, New York Times), weltweite Ausstellungen und verschiedenste Kunst- und Kinderbücher (z.B. Travel Book Seoul, Issun Boshi). Für ihre Werke wurden sie mehrfach ausgezeichnet, beispielsweise mit der Honorary Mention des Bologna Ragazzi Awards und dem Prix Libbylit Bruxelles.
Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.
Icinori, „DANKE“, Kassel: Rotopol 2024, ISBN: 978-3-96451-055-6, 26 Euro, 176 Seiten, ab drei Jahre