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LesePeter Dezember 2024

Auszeichnung für „Alleinekind“

Manchmal gibt es in einer Familie nur ein Kind. Ist es dann gegenüber den Erwachsenen „einzeln“ oder „allein“? Das Bilderbuch „Alleinekind“ von Corinna Pourian erkundet die Befindlichkeit eines solchen Kindes im Kosmos der Familienbeziehungen.

Dieses Bilderbuch greift ein wesentliches Lebensthema von Kindern auf, das Dasein als Einzelkind. Die Autorin und Illustratorin bildet dazu die Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen in unserer modernen Gesellschaft ab und bricht dabei die traditionelle Familienvorstellung von Mutter, Vater und mehreren Kindern gewinnbringend auf. 

Es entsteht ein sehr realistisches Bild, das keine Lebensweise favorisiert, sondern Möglichkeiten aufzeigt. Während die Texte sachlich konkrete Situationen und Bedingungen benennen, entführen die Illustrationen auf sehr eindrückliche Weise in die Gefühlswelt der Protagonistin.

Deshalb geht der LesePeter des Monats Dezember an Corinna Pourian für das Bilderbuch „Alleinekind“.

Einzeln oder allein

Ein aufgeschnittener Apfel tritt uns gleich auf dem Vorsatzpapier entgegen. Gemäß dem Kinderlied liegen in den fünf Stübchen die Kernlein beieinander. Die kindliche Hauptfigur fühlt sich wie einer dieser Kerne und reflektiert ihr Eingebundensein in Gemeinschaften. Sie ist ein sogenanntes Einzelkind. In ihrer Familie gibt es Eltern, die Erwachsenen, und nur sie als einziges Kind. Die Eltern sind die Bestimmer über ihr Leben. Sie sind die Großen, schon viel länger da und haben ein großes Wissen. Aber auch das Kind weiß viel. Zum Beispiel „alles über Steine und Regen“. 

Das Kind könnte sich im Urlaub allein fühlen oder es genießt dort, dass es beispielsweise das Spielzeug nicht teilen muss. Das Kind kann eine beste Freundin haben und zu zweit können sie die fantasievollsten Spiele spielen. Und es erlebt über sie, wie das Leben mit vielen Geschwistern sein kann. Nicht immer nur schön! So hat alles seine Vor- und Nachteile. Diese Unabschließbarkeit und Uneindeutigkeit wird klar inszeniert, auf eine (Be-)Wertung will sich die Autorin bewusst nicht festlegen. Wenn das Kind groß ist, kann es selbst Entscheidungen treffen, wie es leben möchte. „Dann bekommt es vielleicht selbst zwei oder vier Kinder. Oder keins oder drei“?

Das namenlose Kind, das uns durch das Buch führt, ist möglichst wenig individuell charakterisiert. Durch Farbe, Größe und bewegte Form ist es auffällig ins Bild gesetzt. Ein farbkräftiger Pullover mit lustigem Tiermuster und ein stets wehender langer Zopf, der mit roten Perlen gefasst ist, wirken dynamisch. Gestik und Mimik interpretieren deutlich, was „Kind“ von der jeweils vorgestellten Lebenssituation hält. Entsprechend der Buchthematik schaut es stets nachdenklich bis kritisch. Dabei wirkt diese hinterfragende Sicht auf das Kinderleben keineswegs pessimistisch. Im Bild ist das Kind nie allein. 

Eine illustre Figurengemeinschaft bildet ein belebtes Umfeld: Erwachsene, andere Kinder, Spielzeug, ein Hund oder der bemalte eigene Zeigefinger als ein Gefährte, ebenso wie Topfpflanzen,die baumähnliche Kronen ausbilden. Nachdem diese als Verweis auf den natürlichen Prozess des Wachsens eingeführt wurden, fungieren sie als Begleiter des Kindes. Sie säumen die Straße, auf dem das Kind den Hund ausführt, stehen neben den Häusern, an denen sich die Freunde treffen und bestätigen mit ihren eingezeichneten Gesichtern, die Gefühle des Kindes.

Neben dem Leben in der Familie und mit einer Freundin verweist das Buch unaufdringlich auf weitere Möglichkeiten, in der Gemeinschaft eingebunden zu sein. „Schließlich ist da immer jemand.“ Cousins, Tanten, Onkel, Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Besonders die heitere Aufzählung von Leihoma, über Blutsbruder zu Schwippschwager wird Gespräche in Gang setzen.

Bilder erzählen von Gefühlen

Die Autorin stellt in ihren grafischen Illustrationen keine Bildräume dar. Sie lässt wie in einem Spielstück Figuren und Motive auf weißem Hintergrund wie im Raum schwebend auftreten. Sie begleiten das Nachdenken der Kinderfigur und verdeutlichen die Gefühlswelt, die Gemeinsamkeit oder Alleinsein, Unterordnung oder Selbstbestimmtheit erzeugen. Mehrfach tritt die goldene Krone auf. Wer sie trägt, fühlt sich als Bestimmerin oder Bestimmer. Dann muss aufgeräumt werden und es gibt keine Süßigkeiten mehr. 

Für die leckeren Genüsse steht der Schokokopf. So wie ein Verbot in den Gefühlen nachhallt, tritt auch diese Leckerei in den folgenden Seiten weiterhin auf. Der Vater jongliert sogar damit! Wie werden kindliche Leserinnen und Leser das deuten? Auch andere Motive reichen über die einzelne Seite hinaus. Spricht das Kind darüber, dass es alles über Regen und Steine weiß, taucht der Regen schon eine Doppelseite vorher auf und die Steine sind ein wichtiges Element auch bei sich anschließenden Handlungen.

Auch über Bildaufbau und -ausschnitt werden Gefühle verdeutlicht. Bei einer besonders kritischen Frage rückt zum Beispiel das Gesicht der Hauptfigur in die Großaufnahme, und wir sehen nur hochgezogene Schultern, ausdrucksstarke Augen und den wehenden Zopf.  An anderer Stelle werden beim Streiten der Figuren die Zähne gezeigt. Es entsteht ein Knäuel von Körpern, aus dem Hörner herausragen, die aus Kampfeslust gewachsen sind. Da erscheint die Situation zwischen den Geschwistern der Freundin ähnlich der, wenn sich das Kind mit seiner Mutter intensiv auseinandersetzt.

Corinna Pourians selbstbewusste Kinderfigur bietet eine gute Identifikationsmöglichkeit und lädt ein, über sein eigenes Befinden in Familie und Umfeld und über die Möglichkeiten der verschiedensten Beziehungen nachzudenken. Ohne die Form einer Bilderbuchgeschichte zu überfrachten, bezieht die Autorin eine sehr große Vielfalt ein. Sie bleibt dabei dankenswerterweise immer bei der kindlichen Sicht auf die heutige Realität.

Die Autorin und Illustratorin

Corinna Schmelter-Pourian, geboren 1974, wuchs in Gütersloh auf und studierte in Hildesheim Kulturpädagogik. Sie arbeitete als Theaterpädagogin, Illustratorin von Plakaten und Werbematerial sowie als Kunstlehrerin in Grundschulen. Jetzt lebt sie als Teil einer Patchwork-Familie mit fünf Kindern in der Nähe von Bremen und ist als Illustratorin und Kulturvermittlerin in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig.

Im Frühjahr 2024 erschien das Bilderbuch für Erwachsene „Salzige Milch“ (Text: Anna Job) bei Kunstanstifter, 2025 folgt der zweite Teil „Muschmamm“. „Alleinekind“ ist ihr Veröffentlichungsdebüt im Kinderbuchbereich und von ihrer eigenen Geschichte des Aufwachsens als Einzelkind inspiriert. Am liebsten möchte sie nur noch Bilderbücher machen. „Das nächste wartet schon in meinem Kopf- und das übernächste auch“, sagt sie.

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Corinna Schmelter- Pourian, Alleinekind, Mannheim: Kunstanstifter, 2024, ISBN: 978-3-948743-39-0, 22 Euro, 44 Seiten, ab 5 Jahre