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IQ über 130

Auch Hochbegabte brauchen Förderung

Die Unterstützung besonders leistungsstarker Kinder galt lange als unnötig. Inzwischen haben Bund und Länder erkannt, dass auch diese Schülerinnen und Schüler professionelle Begleitung brauchen.

Ben* (8) liegt neben einem Mitschüler auf dem Bauch und macht Prozentrechnung. Beide lernen in der Bonner Montessori-Grundschule, die jahrgangsübergreifend und inklusiv arbeitet. Das Thema steht nicht auf dem Lernplan, aber die beiden sind mit dem Stoff der 4. Klasse durch und brauchen neue „Nahrung“. Ben rechnet alles mühelos im Kopf.

Rund 2 Prozent der Bevölkerung gelten mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130 als hochbegabt. Allerdings ist der IQ als einziges Kriterium für eine Hochbegabung umstritten. Viele Expertinnen und Experten sehen in der Motivation eines Menschen oder seiner Kreativität ebenso ein Zeichen für besondere Begabung. Andere stellen den Sinn von IQ-Tests generell in Frage, weil sie Intelligenz für ein nicht messbares Konstrukt halten. Ungeachtet dieses Streits hat sich innerhalb der Pädagogik ein Paradigmenwechsel vollzogen. Galt früher die These, Hochbegabte bräuchten keine Unterstützung, nehmen Bund und Länder heute auch besonders leistungsstarke Kinder im Rahmen von Begabungsförderung und Inklusion in den Blick.

Bens Lehrerin Larissa Zimprich hat schon mehrere Kinder mit besonderen Begabungen unterrichtet. „Freiarbeit und jahrgangsübergreifender Unterricht helfen mir, ihre Stärken zu erkennen“, sagt sie. Dabei geht es ihr nicht um Elite-, sondern um Begabungsförderung generell: „Viele Pädagogen schauen immer noch nach den Defiziten. Es würde allen helfen, wenn sich das ändert.“

Kinder wie Ben bräuchten nicht einfach mehr Aufgaben, sondern andere Herausforderungen, sagt Zimprich. Für den Achtjährigen kann das Wurzelziehen oder Bruchrechnen sein. Oder ein Filmprojekt, bei dem er mit anderen eine spannende Story schreibt. Zimprich erlebt aber auch, dass es ein Limit bei der Förderung Hochbegabter gibt: „Ausstattung, zeitliche Ressourcen und 24 Kinder in der Klasse – irgendwann stößt die innere Differenzierung an Grenzen.“ Deshalb seien Teamarbeit und außerschulische Lernpartner wichtig. So ermöglicht die Montessori-Schule, dass Ben und andere besonders Begabte am Mathekurs eines Bonner Gymnasiums teilnehmen.

Manche Hochbegabte fallen nicht zuerst durch ihre kognitiven Leistungen auf, sondern weil sie anders lernen, sich anders verhalten oder anecken.

Das Klischee des Sonderlings, der wie Einstein rechnet, aber sozial unverträglich ist, erfüllt Ben nicht. Das gilt auch für viele andere Hochbegabte. Das heißt aber nicht, dass diese Kita und Schule gleichsam als Selbstläufer absolvieren. „Als Ben im ersten Kindergartenjahr begann, zu lesen und zu rechnen, sah man dort keine Möglichkeit, ihn zu unterstützen“, sagt sein Vater. Spielmaterialien seien starr den Altersgruppen zugeordnet gewesen: „Obwohl Ben zuhause bereits Puzzle mit 300 Teilen und mehr meisterte, durfte er dort nicht einmal solche mit 100 Teilen legen. Die waren nur für Vorschulkinder.“

Ben verließ die Kita und wurde vorzeitig eingeschult. Vorher ließ sich die Familie vom Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland beraten, das unter anderem Bens IQ testete. Seine kognitiven Leistungen gingen weit über die Anforderungen der 1. Klasse hinaus; emotional und sozial aber war er ein Vorschulkind. „Wir wollten Ben kein Etikett aufkleben“, sagt der Psychologe Michael Wolf. „Aber wir wollten wissen: Wo steht der Junge und wie können wir ihn unterstützen?“ Das Zentrum kooperiert mit Schulen und hilft bei Problemen in der Familie – etwa wenn besonders Begabte mit Gleichaltrigen nicht zurechtkommen oder am liebsten nur mit Erwachsenen reden.

Manche Hochbegabte fallen nicht zuerst durch ihre kognitiven Leistungen auf, sondern weil sie anders lernen, sich anders verhalten oder anecken – in Mathematik zum Beispiel. „Viele lassen bei ihren Rechnungen Zwischenschritte weg, weil für sie die Lösung auf der Hand liegt. Diese verkürzten Lösungswege zu erkennen und angemessen zu bewerten, kann jedoch für Lehrkräfte schwierig sein“, weiß Bens Vater. Probleme macht das nicht nur in Mathe, sondern auch bei der Kommunikation. „Für Hochbegabte sind Zusammenhänge häufig klar. Deshalb teilen sie bestimmte Dinge nicht mit.“ Das könne ein Grund dafür sein, dass andere sie für sozial inkompetent hielten.

Bei Ben ist das nicht der Fall – vielleicht auch deshalb, weil er früh professionelle Hilfe bekam und seine Lehrerin Erfahrung mit besonderen Begabungen hat. Die Bilanz von Bens Vater: „Obwohl er sehr jung eingeschult wurde, ist er in seiner Klasse gut angekommen.“ Auch die anderen Kinder profitieren davon, dass er viel weiß. „Ist ‚wehgetan’ ein Verb, Ben?“, fragt eine Mitschülerin. Ben schüttelt den Kopf: „In diesem Fall ein Partizip.“

Begabung entdecken:

Kinder mit herausragenden Begabungen gibt es in jeder Schule, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. Doch nicht immer werden ihre Talente erkannt, etwa wenn sie schlecht Deutsch sprechen. Auch soziale Probleme oder Unterforderung können dazu führen, dass ein Kind seine Möglichkeiten nicht ausschöpft. Begabungsforscher sprechen dann von Underachievement. Für die Förderung „begabter und potenziell leistungsstarker“ Kinder in dem Programm „Leistung macht Schule“ stellen Bund und Länder insgesamt 125 Millionen Euro bereit. 300 Primar- und Sekundarschulen sind beteiligt. Ingmar Ahl vom Vorstand der Karg-Stiftung für Hochbegabte begrüßt den Paradigmenwechsel. „Die Unterstützung besonders Leistungsstarker gilt nicht mehr als Eliteförderung, sondern als Teil einer nötigen individuellen Förderung.“ Allerdings setzten die Angebote zu spät ein, kritisiert der Bildungshistoriker. Lange Zeit habe nur das Gymnasium als optimaler Förderort gegolten: „Wenn wir das Gerechtigkeitsdefizit ausgleichen wollen, muss die Begabungsförderung schon in der Grundschule beginnen.“ Damit nicht nur Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern gefördert werden, unterstützt die Karg-Stiftung auch Projekte in sogenannten sozialen Brennpunkten. Bis zu einer systematischen Verankerung in der Lehrkräfteausbildung sei es aber noch ein weiter Weg, sagt Ahl. Es gebe nach wie vor die Tendenz, zuerst auf die Defizite der Kinder zu schauen: „Lehrkräfte sollten grundsätzlich eine Begabung erwarten – bei jedem Kind.“