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Diskriminierungskritische Bildungsarbeit

Aschaffenburg is(s)t bunt

Das Jugend- und Kulturzentrum (JUKUZ) in Aschaffenburg ist die meistgenutzte Jugendeinrichtung am bayerischen Untermain. Für seine Arbeit hat das 22-köpfige Team mehrfach Preise erhalten.

Jugend- und Kulturzentrums-Leiter Jimmy Roth (li.) in Aschaffenburg, seine Kollegin Anja Henninger und sein Kollege Sebastian Rüth legen Wert auf die Feststellung: Diskriminiert wird hier niemand. (Foto: Christoph Boeckheler)

Jarrett trifft als Erster am JUKUZ ein. Bereits eine Viertelstunde bevor der „Offene Treff“ aufmacht, kurvt der Fünftklässler mit seinem Fahrrad auf dem Hof herum. Doch in Corona-Zeiten ist Warten angesagt. Nach der Nachmittagsbetreuung müssen die Räumlichkeiten erst einmal gereinigt werden. Von Montag bis Freitag bietet das JUKUZ die kostenlose Betreuung für 10- bis 16-jährige Schülerinnen und Schüler an, gemeinsames Mittagessen inklusive. Diskriminiert wird hier niemand. Haben die Eltern wenig Geld, bekommen die Kinder auch das Essen kostenlos.

Momentan öffnet der Jugendtreff eine halbe Stunde später als gewöhnlich. Soviel Zeit ist für die Reinigungsarbeiten reserviert. Sobald sich die Tür öffnet, steuert Jarrett zielgerichtet den Tresen an. Hier gibt es bei Anja Henninger Billardqueues, PS4-Controller, Dartpfeile und Getränke. Minuten später fläzen sich Jarrett, Elias und Rafael auf dem breiten roten Ledersofa. „Probier’s mal“, stößt Rafael Elias in die Seite. „Da musst du draufdrücken!“ Er zeigt auf einen Knopf des PS4-Controllers. Sichtbar begeistert lassen die Drei die bunten „Gang Beasts“, den Michelin-Männchen ähnliche Figuren, auf der Leinwand hoch über den Wolkenkratzern herumturnen und sich balgen.

„Die Stadt hat viel Geld in die Hand genommen, um das JUKUZ hinzustellen. Wir haben damals einen breiten Beteiligungsprozess mit den Besuchern gemacht.“ (Jimmy Roth)

Viermal die Woche gibt es den „Offenen Treff“ zu festen Terminen. „Der Treff steht im Mittelpunkt der Arbeit des Jugendhauses“, sagt JUKUZ-Leiter Jimmy Roth. Der Weg zu seinem Büro im ersten Stock führt über ein mit farbenfrohen Wandgemälden geschmücktes Treppenhaus. Das Werk von Jugendlichen. Roth ist von Anfang an dabei – seit 1996. Damals fiel die Entscheidung für eine zentrale Jugendeinrichtung. Sie wird ergänzt um drei Jugendtreffs in den Stadtteilen. „Die Stadt hat viel Geld in die Hand genommen, um das JUKUZ hinzustellen. Wir haben damals einen breiten Beteiligungsprozess mit den Besuchern gemacht“, erzählt Roth.

Zwischen Altstadtfriedhof und Wohnhäusern gelegen, gehören zum JUKUZ neben dem eigentlichen Jugendhaus mit seinen Begegnungsräumen, der Disco, Küche, Medienwerkstatt und den Büros mehrere Anbauten mit Kreativ-Werkstätten sowie ein großer Saal mit Bühne für Veranstaltungen. Integriert sind auch das städtische Musikbüro und Proberäume für Musikgruppen, das Büro des Stadtjugendrings sowie die Jugendinformationsstelle Café ABdate. Wegen Corona wurden allerdings viele Angebote bis auf ein Minimum heruntergefahren. So bleibt die Küche weitgehend kalt, die Disco dunkel und die Werkstätten bieten nur ein eingeschränktes Programm nach Voranmeldung für eine begrenzte Zahl von Teilnehmenden an. In den Jugendtreff, der in mehrere Teilbereiche gegliedert das komplette Erdgeschoss des Jugendhauses einnimmt, dürfen maximal 15 Jugendliche gleichzeitig.

„Kochen und essen verbinden. Es verlangt keine gemeinsame Sprache, um sich näher zu kommen oder auszutauschen.“

Im Eingangsbereich begrüßt ein riesiges Plakat die Besucher: „Say their names“. Es erinnert an Ferhat Unvar und acht weitere Menschen, die im Februar 2020 in Hanau bei einem rassistisch motivierten Anschlag ermordet wurden. Zwei junge Männer betreten den Thekenraum. Alte Bekannte, signalisiert der Gesichtsausdruck von Roths Kollegin Henninger. Andreas und Dennis gehören mit 23 respektive 24 Jahren zu den Senioren des „Offenen Treffs“. Hotelfachmann der eine, Lagerlogistiker der andere, ist ihnen das Jugendhaus über die Jahre zur zweiten Heimat geworden. „Wir sind vier- bis fünfmal die Woche hier“, schätzt Andreas. Warum? „Man kann hier alles machen: Kicker, Billard oder Dart spielen, reden, neue Leute kennenlernen.“

Für besondere Impulse sorgte in den vergangenen Jahren das gemeinsame Kochen mit Geflüchteten und anderen Neu-Aschaffenburgern. „Kochen und essen verbinden“, betont Roth. „Es verlangt keine gemeinsame Sprache, um sich näher zu kommen oder auszutauschen.“ Die aus einem Jugendprojekt hervorgegangene Aktion „Aschaffenburg is(s)t. Kochen mit Nachbarn aus aller Welt“ wurde vor neun Jahren mit dem Preis „Bildungsidee 2011“ ausgezeichnet.

Ein Haus für viele Interessen

„Die Stadt hat traditionell eine Vorreiterrolle im Bereich von Bildung und Integration eingenommen“, sagt Roth. „Deshalb wurde das Thema auch schon früh ein Schwerpunkt unserer Arbeit.“ Bis heute gebe es keine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit. Aschaffenburg sei eine recht ruhige Stadt mit einem guten Sozialklima. Um dieses zu bewahren, habe die Stadtregierung in den vergangenen 25 Jahren viele Beteiligungsprozesse angestoßen. Gerade hat sie in einer Online-Befragung an Schulen die Lebenssituation, die Freizeitaktivitäten und Wünsche von Kindern und Jugendlichen ausgelotet.

„Aschaffenburg nimmt gewissermaßen eine Zwitterrolle ein“, sagt Oliver Theiß, städtischer Jugendhilfeplaner. „Einerseits sind wir eine bayerische Stadt, auf der anderen Seite liegen wir im Einzugsbereich des Rhein-Main-Gebietes.“ Viele soziale Indikatoren wie die Zahl der Empfänger von ALG I oder ALG II, die Schuldenquote oder die Zahl der Wohngeld-Empfänger entsprächen eher denen der umliegenden hessischen Kommunen, betont Theiß. Die Stadt bemühe sich jedoch, soziale Härten abzumildern. Das Thema Integration steht laut Theiß seit 2008 ganz oben auf der Tagesordnung. Von den jungen Erwachsenen bis einschließlich 26 Jahre hätten fast 21 Prozent einen ausländischen Pass. Auch deshalb habe die städtische Jugendarbeit einen hohen Stellenwert für die Integration.

Die Vielfalt der JUKUZ-Angebote ermöglicht es, ganz unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen. „In die Medienwerkstatt* kommen andere Kids als zu den Offenen Treffen“, sagt Sozialarbeiter Sebastian Rüth. „Das JUKUZ ist ein Haus für viele Interessen. Viele Gruppen laufen hier nebeneinander her.“ Das macht es aus Rüths Sicht für Außenstehende nicht immer einfach, die Struktur zu durchschauen.

„Für unsere Arbeit sind vier Werte zentral. Toleranz, Gewaltfreiheit, Offenheit und Pluralität. Sie sollen ein friedliches und tolerantes Miteinander fördern. Wenn es angesagt ist, beziehen wir dabei auch politisch Position.“

Die Integration von Einwanderern und ihren Familien habe schon immer einen herausragenden Stellenwert in der Arbeit von Stadt und JUKUZ eingenommen. So hätten die Kochrunden nicht nur manche Bekanntschaft und Freundschaft gestiftet. Sie seien oft die Brücke für den Einstieg in Vereine und Verbände gewesen, berichtet Roth. Er bedauert, dass seit einigen Jahren wieder Dinge sagbar seien, die früher undenkbar waren. In den vergangenen Jahren hat das JUKUZ versucht, mit einer Veranstaltungsreihe gegenzuhalten. 2019 warb es unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit der Kampagne „respekt – vor Menschen, Tieren, Sachen und Dir selbst“. „Für unsere Arbeit sind vier Werte zentral“, sagt Roth. „Toleranz, Gewaltfreiheit, Offenheit und Pluralität. Sie sollen ein friedliches und tolerantes Miteinander fördern. Wenn es angesagt ist, beziehen wir dabei auch politisch Position.“

„Extreme Positionen finden sich unter unseren Jugendlichen eher selten“, berichtet Rüth. „Wichtig ist immer, authentisch zu bleiben, eine klare Meinung zu haben und auch dazu zu stehen.“ Henninger ergänzt: „Wir sagen klar, wenn etwas nicht okay ist. Aber wir sind oft auch Vertrauenspersonen. Wir dürfen jemandem nicht signalisieren, dass wir ihn nicht mehr mögen, weil er eine andere Meinung hat.“ Immer sei klar: „Wir stehen auf deiner Seite. Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn etwas ist.“ Für Henninger und Rüth sind die vier Grundwerte Maßstab und Ziel ihrer täglichen Arbeit. „Wir versuchen, das selbst zu leben und durch unsere Arbeit Jugendliche und junge Erwachsene zu motivieren, das auch zu tun“, sagt Rüth. Und ergänzt: „Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession, keine ordnungspolitische Aufgabe.“

15 bis 25 Leute kommen zu den wöchentlichen Treffen der LGBT*IQ-Jugendinitiative rAinBows ins Aschaffenburger Jugend- und Kulturzentrum, darunter auch Phuong (li.) und Sven. (Foto: Christoph Boeckheler)

Möglichkeit des Austauschs

Donnerstags sind die rAinBows die letzte Gruppe, die sich im JUKUZ trifft. „Wer zufällig reinschaut, könnte uns auch für eine katholische Jugendgruppe halten“, sagt Phuong. „Wir reden, wir spielen, schauen Filme an, kochen zusammen. Vielleicht laufen die Vorstellungsrunden anders als gewohnt.“ 15 bis 25 Leute kommen zu den wöchentlichen Treffen der LGBT*IQ-Jugendinitiative, erzählen Sven und Andreas. Das JUKUZ ist der einzige Ort in Aschaffenburg, wo sich queere Jugendliche und junge Erwachsene zwanglos treffen können. „Girls will be boys and boys will be girls.“ Die Zeile aus dem Song „Lola“ der Rockband „The Kinks“ könnte darüber als Motto stehen. Niemand wird hier nach seiner Identität gefragt. „Aber es gibt immer die Offenheit und die Möglichkeit, sich auszutauschen“, sagt Andreas. Wichtig ist ihnen auch, andere aufzuklären. Im vergangenen Jahr waren sie an sechs Schulen eingeladen.

Die Leitlinie der rAinBows, Besucherinnen und Besucher so zu akzeptieren, wie sie sind, könnte auch über dem JUKUZ stehen. Denn die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die hier gemeinsam ihre Freizeit verbringen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Neben der interkulturellen Öffnung sieht das Team in der internationalen Jugendarbeit eine wichtige Möglichkeit, das Verständnis junger Menschen füreinander über Länder- und Kulturgrenzen hinweg zu fördern. Seit fünf Jahren reist das JUKUZ-Basketball-Team zu regelmäßigen Begegnungen mit französischen Jugendlichen in die Normandie – für Roth eine gute Möglichkeit zu interkulturellem Lernen, gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt.

„Schule kann nicht alle Bildungsaspekte abdecken.“

Die Basketball-Reisen wie auch Jugendfreizeiten in anderen europäischen Ländern organisiert das 22-köpfige Team soweit möglich gemeinsam mit den Jugendlichen. Eine Bereicherung sieht Roth im Europäischen Freiwilligendienst (EFD). Traditionell bietet das JUKUZ auch eine EFD-Stelle an. Im Moment nimmt diese Natalia Gulina ein. Die 26-Jährige kommt aus der Nähe von St. Petersburg. Auch das fördert Toleranz, Offenheit, Pluralität. „Schule kann nicht alle Bildungsaspekte abdecken“, ist sich Roth sicher. „Die Stadt Aschaffenburg hat in der Jugendarbeit schon früh einen eigenständigen Bildungsauftrag gesehen.“