Zum Inhalt springen

Prekäre Beschäftigung an Hochschulen

Arbeitszeiterfassung als Chance

In einem wegweisenden Urteil hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) festgelegt: In Deutschland besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Das gilt auch für die Wissenschaft, hat der Jurist Simon Pschorr jetzt in einem GEW-Fachgespräch klargestellt.

Foto: Pixabay / CC0

Überstunden gehören für viele Beschäftigte zum Arbeitsalltag, oftmals unbezahlt. Das gilt besonders für Tätigkeiten im Wissenschaftsbetrieb, wo Vertrauensarbeitszeit typisch ist. Bestimmte Aufgaben müssen erledigt werden, aber wie viel Zeit dies in Anspruch nimmt, das ist den Beschäftigten überlassen und wird selten erfasst. Doch fehlende Erfassung führt zur Entgrenzung der Arbeit, das zeigen Studien. Die Faustformel lautet: Je flexibler gearbeitet wird,  desto länger ist die Arbeitszeit.

„Gehaltskürzung auf kaltem Weg“

Gerade für den akademischen Mittelbau ist das ein Problem. Hier gibt es vielfach nur Teilzeitstellen, während de facto Vollzeit gearbeitet wird. „Die Grenzen verschwimmen, Selbstausbeutung ist an der Tagesordnung“, so erzählen es Betroffene. „Wir kriegen gar nicht mit, wie viel wir arbeiten.“ Von einer „Gehaltskürzung auf kaltem Weg“ spricht Andreas Keller, GEW-Vorstandsmitglied Hochschule und Wissenschaft. Wie groß der Frust ist, haben junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen 2021 unter dem Hashtag #IchbinHanna geschildert.

„Das ist ein Paradigmenwechsel und ein Paukenschlag.“ (Simon Pschorr)

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat dieser problematischen Situation einen Riegel vorgeschoben. Sein Grundsatzurteil vom September 2022 stellt klar: Es gibt eine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, und zwar in allen Branchen. „Das ist ein Paradigmenwechsel und ein Paukenschlag“, sagt der Konstanzer Jurist Simon Pschorr. Auf Einladung der GEW hat der Experte für Hochschularbeitsrecht vergangene Woche bei einem Fachgespräch erläutert, was das BAG-Urteil für die Hochschulen und die dort Beschäftigten bedeutet.

Es braucht keine Stechuhr

Die große Zahl der Teilnehmenden zeigte, dass großer Informationsbedarf besteht. „Es herrscht Unsicherheit“, berichtet ein GEW-Mitglied. Viele haben die Sorge, die Stechuhr könnte zurückkehren und die bisherige akademische und pädagogische Freiheit verloren gehen.

Hier gibt Pschorr Entwarnung. „Das BAG-Urteil macht keine Aussage zur Art der Erfassung“, sagt er. „Es gibt Gestaltungsspielraum.“ Denkbar sind Listen oder Excel-Tabellen, aber auch moderne Lösungen wie Apps. „Das Homeoffice ist nicht tot“, stellt der Jurist klar. „Erfassung ist auch heute schon ohne Präsenz möglich.“

Bei der Frage, wie viele Daten erfasst werden, hat der Personalrat mitzureden. Als zentralen Punkt benennt Pschorr den Gesundheitsschutz. „Das ist wichtiger als wirtschaftliche Überlegungen.“ Werden Beschäftigte vom Arbeitgeber zur Falscherfassung gedrängt, sollten sie sich an die Ombudsstelle wenden.

„Personalräte können die Initiative ergreifen und den Arbeitgeber zum Jagen tragen.“ (Simon Pschorr)

Die Urteilsbegründung liegt seit Anfang Dezember vor. Arbeitsminister Hubertus Heil hat „praxistaugliche Lösungen“ angekündigt, „voraussichtlich im ersten Quartal 2023“. So steht es auf der Website seines Ministeriums.

Unabhängig davon besteht die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung schon jetzt. „Personalräte können die Initiative ergreifen und den Arbeitgeber zum Jagen tragen“, sagt Simon Pschorr. Allerdings, das hat das BAG-Urteil klargestellt, können sie nicht einfordern, dass der Arbeitgeber ein Zeiterfassungssystem einführt – da dieser seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von Mai 2019 ohnehin dazu verpflichtet ist. Sehr wohl aber können sie ein Gespräch über die Art des Systems fordern und damit die Sache ins Rollen bringen.

Mit der Arbeitszeiterfassung lässt sich das Recht auf Qualifizierung besser durchsetzen. (Simon Pschorr)

Doch gilt dies auch für die Wissenschaft? Nach dem EuGH-Urteil, auf dem der BAG-Beschluss beruht, hatte HRK-Präsident Alt eine „Lex Wissenschaft“ mit umfassenden Ausnahmen gefordert. Doch dies ist nun vom Tisch. „Die Wissenschaft als Gesamtheit kann man nicht ausnehmen“, betont Simon Pschorr. „Ausnahmen gibt es nur für Leitungsfunktionen, also Personen mit selbstständigen Entscheidungsbefugnissen, wie etwa Professoren.“ Das gilt sowohl für Beschäftigte als auch Beamtinnen und Beamte.

Unbezahlte Mehrheit dokumentieren

Pschorr sieht große „Chancen“, gerade für den Mittelbau. „Mit der Arbeitszeiterfassung lässt sich das Recht auf Qualifizierung besser durchsetzen.“ Unbezahlte Mehrheit wird dokumentiert und muss künftig entlohnt oder ausgeglichen werden.

Doch es bleiben Fragen. „Es könnte sein, dass die zu erbringenden Angebote für Studierende gestrichen werden“, warnte bei dem Fachgespräch ein GEW-Mitglied. Diese Gefahr sieht auch Pschorr und schlägt vor: „Deshalb muss man die Bedeutung dieser Angebote noch mehr betonen.“