Neues Selbstbestimmungsgesetz
Arbeitgeber müssen proaktiv tätig werden
Seit dem 1. November ist es möglich, seinen Vornamen und Geschlechtseintrag beim Standesamt ändern zu lassen. Welche Anforderungen damit für die Arbeitswelt einhergehen, erklärt die Rechtsanwältin Friederike Boll im E&W-Interview.
- E&W: Welche Folgen ergeben sich durch das neue Selbstbestimmungsgesetz für den Arbeitsplatz?
Friederike Boll: Viele Menschen haben seit Jahren auf dieses Gesetz gewartet. Klar ist: Langfristig müssen wir uns als Gesellschaft damit einrichten, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Für den Arbeitsplatz folgt daraus, dass alle Strukturen angepasst werden müssen, die eine binäre Geschlechterordnung zugrunde legen. Allerdings gibt es diese Pflicht schon lange. Das Antidiskriminierungsgesetz schreibt seit Jahren vor, dass Diskriminierungen aller Art verhindert werden müssen – auch am Arbeitsplatz. Jetzt gilt es, den Anlass zu nutzen, um zu überprüfen, ob die Vorgaben auch tatsächlich eingehalten werden.
- E&W: Was gehört konkret dazu?
Boll: Los geht es mit der Frage, ob die Anrede korrekt ist. Das gilt für Visitenkarten, für die Homepage und wo auch immer Bezug auf die Person genommen wird. Überall, wo ich genannt werde, habe ich einen Anspruch darauf, mit meinem richtigen, möglicherweise neuen Namen und Geschlecht bezeichnet zu werden. Dazu gehört auch, mit dem korrekten Pronomen angesprochen zu werden. Und zwar nicht erst nach der offiziellen Änderung, sondern schon vorher.
- E&W: Wie sieht es mit Arbeitsverträgen oder Zeugnissen aus, die irgendwo archiviert sind?
Boll: Der Arbeitgeber muss prüfen: Wie lässt sich verhindern, dass veraltete Daten bekannt werden. Das Selbstbestimmungsgesetz bestimmt, dass Beschäftigte eine Änderung der Pronomen oder von Namen in Arbeitsverträgen oder Zeugnissen nur dann beantragen können, wenn vorgesehen ist, dass die Dokumente bei einem Jobwechsel mitgenommen werden können; also nicht, wenn sie in der Personalakte bleiben. Doch diese Vorgabe halte ich juristisch für falsch. Die Datenschutzgrundverordnung gibt vor, dass falsche personenbezogene Daten gelöscht oder geändert werden. Sonst würde sich ja bis zum Sankt-Nimmerleinstag allen Vorgesetzten die Vergangenheit der Mitarbeitenden offenbaren.
- E&W: Wo müssen Schulen oder Betriebe noch aktiv werden?
Boll: Natürlich geht es immer um die klassische Frage nach den Toiletten. Da können einige Toiletten binär bleiben, andere als unisex eingerichtet werden. Dafür bieten sich Toiletten in einzelnen Räumen an. Wir benutzen ständig Unisextoiletten, in der Bahn oder im Flugzeug, ohne groß darüber nachzudenken. Aber bei den Toiletten gilt genauso wie bei allen anderen Fragen: Die Einzelperson ist nicht in der Pflicht, den Kopf dafür hinzuhalten und im Klein-Klein selbst Lösungsansätze zu präsentieren. Arbeitgeber sind in der Pflicht, proaktiv tätig zu werden.
- E&W: Wie sieht es mit Betriebs- oder Personalratswahlen aus?
Boll: Bei der Wahlliste ist wichtig, dass sie das richtige Geschlecht widerspiegelt. Dabei kommt es nicht darauf an, was formal im Ausweis steht, sondern: Wie lebe ich am Arbeitsplatz? Es gibt kaum etwas Plakativeres, als mit dem Namen und dem Geschlecht am Schwarzen Brett zu stehen. Bei der Verteilung der Sitze gibt es viele Fragezeichen. Der Gesetzgeber hat leider bislang versäumt, klare Regelungen zu formulieren – auch im neuen Selbstbestimmungsgesetz ist es unklar. Wir brauchen dringend Änderungen in den Wahlgesetzen. Sonst wird es zu Wahlanfechtungen kommen. Bis dahin müssen die Wahlvorstände versuchen, eine vertretbare Lösung zu entwickeln.
- E&W: Wie kann so eine Lösung aussehen?
Boll: Ich empfehle, eine mutige Position zu vertreten – mit dem Ziel, die Selbstbestimmung zu fördern. Bei der Wahl gilt es, eine dritte Geschlechtsangabe aufzunehmen. Faktisch ist diese Gruppe aber meist zu klein, um rechnerisch auf einen Quotensitz zu kommen. Gewählte nichtbinäre Personen dürfen jedenfalls weder dem Mehrheitsgeschlecht zugeschlagen noch für das Minderheitengeschlecht mitgezählt werden – sondern sollten nach ihrem Wahlergebnis berücksichtigt werden.
- E&W: Kann auf die dritte Geschlechtsangabe in der Wahlliste verzichtet werden, wenn bislang niemand als „nichtbinär“ auftritt?
Boll: Nein. Auf der Liste sollte die Angabe trotzdem stehen – dann eben mit einem Strich oder einer Null. Das ist wichtig für die Sichtbarkeit. Je selbstverständlicher wir mit Geschlechtervielfalt umgehen, desto mehr wird sie zum normalen Bestandteil unserer Gesellschaft.