Dialog
Alter der Vielfalt
Verletzlich, schwach, homogen – nach wie vor sind die Bilder von älteren Menschen in der Gesellschaft meist negativ und pauschal. Zeit, die Diversität und Kraft des Alters in den Blick zu nehmen.
Carola Brauckmann geht regelmäßig zu den Treffen der „Grannies for Future“ in Köln, diskutiert, entwickelt Ideen für Aktionen. „Ich fühle mich wohl dort“, sagt die 70-Jährige. Eine offene, linke Gruppe. „Und doch fehlt etwas.“ Die meisten „Grannies“ haben Familie, Kinder, Enkel, oft ein über Jahre gewachsenes Netz von Kontakten im Kiez. Brauckmann und ihre Partnerin nicht. Doch in der LGBTIQ-Community, lange ihre politische Heimat, fühlt sich Brauckmann auch nicht mehr 100 Prozent zu Hause, die queere Szene ist ihr oft zu jugenddominiert.
„Für ältere Lesben gibt es kaum Orte, an denen wir Gemeinschaft mit Menschen leben können, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich nicht mehr erklären wollen.“ (Carola Brauckmann)
„Für ältere Lesben gibt es kaum Orte, an denen wir Gemeinschaft mit Menschen leben können, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich nicht mehr erklären wollen.“ Manchmal fragt sie sich: Wie wird unser Alltag wohl in 15 Jahren aussehen? „Menschen, die einst auf der Straße für ihre Rechte gekämpft haben, wollen moderne Alterseinrichtungen mit Raum für Vielfalt.“
„Die Altersbilder sind differenzierter und diverser geworden.“
Vor gut 20 Jahren schon hat Brauckmann daher am Kölner LGBTIQ-Beratungszentrum Rubicon ein Netzwerk für ältere Lesben und Schwule gegründet. Daraus sind Initiativen entstanden: Theatergruppen, Pride-Aktionen für Ältere, Frühstückstreffen. Darüber hinaus haben Brauckmann und Kolleginnen Gespräche in Alterseinrichtungen geführt: Schaut auf die Bedürfnisse der homosexuellen Alten, das ist eine coole, kraftvolle Generation. Auf Bundesebene sorgen sie mit dem Dachverband „Lesben gestalten Alter“ für Sichtbarkeit. Brauckmann: „Die Altersbilder sind differenzierter und diverser geworden.“
Stereotype haben sich festgesetzt
Altersbilder ändern – ein mühsamer Weg. Über Jahrzehnte haben sich Stereotype im kollektiven Gedächtnis festgesetzt: Ältere, spätestens ab 65, gelten als verletzlich, defizitär. „Auch wenn die späte Lebensphase 25, 30 Jahre umfasst, sprechen wir von DEN Älteren, als ob es eine soziale Kategorie wäre“, so Eva-Maria Kessler, Professorin für Psychogerontologie an der Medical School Berlin. „Die Altersbilder haben sich in den vergangenen 100 Jahren kaum geändert, seit Corona sind sie sogar eher negativer geworden.“ Obwohl Menschen immer länger leben und immer gesünder alt werden.
Die Medien spiegeln dieses Bild wider. Zwar sind 22 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre, doch kommen sie kaum vor – und wenn, erscheint das Alter negativ, oft als Bedrohung, die individuell zu bekämpfen ist. Das zeigt sich in Begriffen: „Alterslawine“, „Rentenlast“. Das zeigt sich in Bildern: Statt Individuen werden oft Ausschnitte gezeigt. Faltige Hände, Rollator schiebende Menschen von hinten, die traurig durch lange Gänge schlurfen. Punktuell positive Bilder kippen meist in eine karikierende Überzeichnung von hippen, super vitalen Alten.
„Gutes Altern sollte nicht als ,Nicht-Altern‘ dargestellt werden, sondern als Lebensphase mit eigenen Herausforderungen und Chancen“, fordert Kessler. „Wir brauchen ein Bild, das der Vielfalt der Lebenslagen gerecht wird.“
Rassismuserfahrungen im Alter
Der neunte Altersbericht des Bundesfamilienministeriums (2025) „Alt werden in Deutschland – Vielfalt und Ungleichheit der Teilhabechancen“ nimmt erstmals die Lage spezifischer Gruppen in den Blick: ältere Homo-sexuelle, aber auch Ältere mit Migrationsgeschichte. 2,5 Millionen von Letzteren sind heute älter als 65 Jahre. Sie stehen materiell deutlich schlechter da als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund, sind dreimal so oft armutsgefährdet. Studien zufolge machen viele von ihnen im Alltag „Rassismuserfahrungen, die nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern auch die gesellschaftliche Integration“ gefährden, so der Bericht.
„Geh zurück, wo du herkommst.“ Solche Sätze hört auch Safter Çinar manchmal. In den 1980er-Jahren war er als Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der GEW der erste Türke an der Spitze einer Gewerkschaft in Deutschland. „Das größte Problem für alte Menschen aus der Türkei, die oft in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet haben, ist allerdings die ökonomische Lage“, betont Çinar. Zwar würden Ältere oft von ihren Familien versorgt, doch in den Städten könnten sich immer weniger Familien Wohnungen leisten, die groß genug sind, um ältere Angehörige aufzunehmen.
In der Gesellschaft fehle es zudem an Vorstellungen: Welche Bedürfnisse haben alte Migrant*innen? Von religiösen Ritualen über Kultur bis zu Ernährung. „Zwar gibt es spezielle Wohnprojekte und Pflegedienste, aber noch nicht flächendeckend.“ Der 78-Jährige selbst wohnt allein, sein Engagement als einer von drei Sprechern im Türkischen Bund Berlin Brandenburg hält ihn fit, er ist eingebunden in ein Netz von Kontakten, seine Töchter unterstützen ihn im Alltag: „Ich habe Glück.“
„In der Fachdiskussion hat sich viel getan, in der Öffentlichkeit dominieren oft weiter negative Altersbilder: Ältere gelten als schwach, einsam, hilfsbedürftig.“ (Jens-Peter Kruse)
„In der Fachdiskussion hat sich viel getan, in der Öffentlichkeit dominieren oft weiter negative Altersbilder: Ältere gelten als schwach, einsam, hilfsbedürftig“, sagt Jens-Peter Kruse, stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenverbände (BAGSO). Entsprechend seien Menschen über 65 Jahre im Bundestag und in den Landtagen unterrepräsentiert, wenig gefragt in Parteien und zivilgesellschaftlichen Institutionen, die sich lieber mit Jugendlichkeit schmücken wollten.
„In einer jugendfixierten Gesellschaft ist es kein Wunder, dass niemand zu der Gruppe der Alten gehören will. Bieten wir eine Veranstaltung 60 plus an, kommen meist nur 80-Jährige“, sagt Kruse. „Aber wenn sich in einer älter werdenden Gesellschaft Alte nicht zu ihrem Alter bekennen, weist das auf ein gesellschaftliches Problem hin.“ Zur Überwindung negativer Altersbilder will die BAGSO mit Generationendialogen zu Themen wie Klimapolitik oder soziale Sicherheitssysteme den Austausch zwischen Altersgruppen fördern.
Seit mehr als 20 Jahren begleite ich die Arbeit des Bundessenior*innenausschusses (BSA) der GEW. Zum 30. Gewerkschaftstag der GEW im Mai verabschiede ich mich aus dem Geschäftsführenden Vorstand und damit auch aus der Senior*innenpolitik der GEW. Das Thema Altersbilder ist ein schöner Bezugspunkt, um über die Arbeit im BSA nachzudenken. Ende der 1990er-Jahre traf ich dort nur sehr wenige Frauen, und die Männer trugen Jackett oder beigefarbene Westen. Heute sind mehr Frauen als Männer aktiv – wie es ihrem Anteil in der GEW entspricht –, und die Kleidung ist farbiger geworden. Seit den frühen 2000er-Jahren schaut die GEW mit großer Aufmerksamkeit auf die wachsende Gruppe der Älteren. Warum sind sie einst Mitglied geworden? Was hält sie in der Organisation? Wie möchten sie Gewerkschaftsarbeit mitgestalten?
Es hat sich etwas getan für die Älteren in der Gewerkschaft. Richtig so. Gewerkschaften vertreten alle Generationen, egal ob in Ausbildung oder Beruf, in Elternzeit, Arbeitslosigkeit oder nach Abschluss der Berufstätigkeit. Gewerkschaftliche Senior*innenpolitik ist mehr als Gesundheit, Pflege, Alterssicherung. Es geht um Teilhabe an der Gesellschaft – vom Digitalpakt Alter über barrierefreie Möglichkeiten, Fahr- oder Theaterkarten zu kaufen, bis zu Senior*innenmitwirkungsgesetzen.
Senior*innenpolitik ist kein pflichtschuldiger Annex, sondern hat dieselbe Relevanz wie alle GEW-Themen und geht alle etwas an.
Auch in der GEW ist die Teilhabe gewachsen. Längst befasst sich der BSA mit Themen, die alle betreffen. Bildung in der digitalen Welt zum Beispiel oder Strategien gegen die verschiedensten Formen der Diskriminierung. Die Senior*innen haben den Generationendialog mit der Jungen GEW und den Studierenden belebt, sie beteiligen sich an der Organisationsentwicklung und signalisieren: Wenn Kolleg*innen, die GEW-Ehrenamt und Beruf unter einen Hut bringen, Unterstützung brauchen, sind wir da. Wir übernehmen Organisatorisches, reflektieren mit euch die Entwicklungen vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen, beraten euch, wo es gewünscht ist. Dieses Engagement Älterer ist ein Schatz für unsere Gewerkschaft.
Den wachsenden Stellenwert Älterer in der GEW zeigt nicht zuletzt der „Dialog“. Seit zwölf Jahren habe ich die Chance, mit der E&W-Redaktion zusammenzuarbeiten. Hier schauen wir aus dem engen Zirkel der Organisation heraus und nehmen eine breite Leser*innenschaft in den Blick: Was bewegt die Älteren? Welche Entwicklungen und Themen sind für sie relevant? Was können wir als Gewerkschaft dazu beitragen? Die Themen werden genauso journalistisch-professionell aufbereitet wie jeder Beitrag in der E&W. Damit zeigen wir: Senior*innenpolitik ist kein pflichtschuldiger Annex, sondern hat dieselbe Relevanz wie alle GEW-Themen und geht alle etwas an. Egal ob es um Altersbilder, den Sozialstaat oder mehr Teilhabe geht. Mir hat die Arbeit mit Senior*innen große Freude gemacht und meinen Horizont erweitert.
Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik
Was können Ältere zur GEW-Arbeit beitragen?
Ein solcher Austausch könne in der Tat Stereotype abbauen helfen, sagen Ute Wiesenäcker und Manfred Doetsch vom Bundessenior*innenausschuss (BSA) der GEW. Das hätten Treffen zwischen BSA und Junger GEW gezeigt. 2022 startete der BSA zudem ein Organisationsentwicklungsprojekt: Was können Ältere zur GEW-Arbeit beitragen, wie können wir die Vielfalt des Alters abbilden? „Ältere möchten gemeinsam aktiv sein“, so Doetsch, „zum Beispiel auf Bildungsfahrten.“
Gerade weil sie mit Abstand und reichem Erfahrungsschatz auf Entwicklungen schauen, könnten sie zudem politische Themen vorantreiben, „ohne besserwisserisch zu sein und ein Wahlamt bekleiden zu müssen“, sagt Wiesenäcker. Zum Beispiel in Projekten zur Demokratiebildung. Die Altersbilder gehören auf den Prüfstand: „Wir wollen aktiver, vielfältiger und als Mitgestalter*innen auf Augenhöhe wahrgenommen werden.“ Dafür hat der BSA einen Antrag für den Gewerkschaftstag 2025 vorgelegt.
„Leistet Widerstand gegen Altersdiskriminierung.“
Damit sich die Bilder auch in einer breiten Öffentlichkeit ändern, hat Psychogerontologin Kessler einen Kommunikationsleitfaden für Medien entwickelt: Statt Ältere als gesichtslose Opfer zu präsentieren, sie als selbstbestimmte Akteur*innen darstellen; statt über Ältere zu reden, sie selbst zu Wort kommen lassen.
Und Ältere selbst? BAGSO-Vertreter Kruse schlägt vor: „Leistet Widerstand gegen Altersdiskriminierung.“ Widersprechen, wenn ein Arzt Altersbeschwerden „diagnostiziert“, ohne den Patienten untersucht zu haben; oder wenn die Bank altersbedingt den Kredit verweigert. „Ein 90-jähriger Jurist hat es gerade vorgemacht“, so Kruse. Als ihm die Bank die Kreditkarte entzog, obwohl der Kreditrahmen unterhalb seiner Pension lag, zog er vor Gericht. „Es gab ihm recht.“ Er bekam eine neue Kreditkarte.
Eckard Rieke, 82, ehemaliger Gesamtschullehrer aus Berlin
Lust auf Zukunft? Natürlich. Aber ich bin 82, etwas ganz Neues anfangen, ist nicht mein Ding. Vor sieben Jahren bin ich in die SPD eingetreten, jetzt ist mir der Kampf gegen die AfD besonders wichtig. Ich beteilige mich an Diskussionsrunden, mache mit bei Demos, habe im zurückliegenden Bundestagswahlkampf am Stand im Wahlkreis mit angepackt: Rechtsextremismus, das darf nie wieder sein!
Bis heute begleitet mich meine Arbeit in Polen, die ich in den 1990ern mit meiner Frau aufgebaut hatte. Polnische und deutsche Schülerinnen und Schüler kümmern sich um die Wiederherstellung eines deutsch-jüdischen Friedhofs in Breslau. Solche Orte waren in Polen lange in Vergessenheit geraten. Einmal im Jahr haben wir uns auf die Suche nach alten Grabsteinen gemacht und den Friedhof gepflegt. Heute mache ich diese Reisen zwar nicht mehr mit, aber die Faszination für Polen ist geblieben – und mit ihr viele Freundschaften. Welch tolles, oft maßlos unterschätztes Land. Wrocław ist unsere zweite Heimat geworden.
Um das Land wirklich zu verstehen, möchte ich die Sprache können. Also nehme ich einmal die Woche Unterricht bei einer polnischen Lehrerin. Ich liebe diese indogermanische Sprache und entdecke immer Neues: Wie viele deutsche Wörter es im Polnischen gibt. „Dach“ zum Beispiel ist dasselbe Wort, ein Spiegel der Wanderungsbewegungen, die viele deutsche Handwerker nach Polen trug. So schön die Sprache ist, so schwer ist sie auch. Polnisch lernen nimmt deshalb viel Raum ein, wir bekommen im Kurs jede Menge Hausaufgaben.
Weitergeführt aus Schulzeiten habe ich auch die Arbeit in der Stolperstein AG Reinickendorf: Geschichten Verfolgter im Nationalsozialismus recherchieren, die Messinggedenksteine im Boden polieren. In letzter Zeit habe ich etwas weniger Energie dafür. Zumal ich mit Elan in das Projekt „Drei Enkel“ eingestiegen bin. Früher haben wir Berlin erkundet, waren schwimmen. Jetzt gebe ich den Staffelstab weiter: Meine Enkeltochter ist gerade ein Jahr bei Freunden in Australien zu Gast, die ich bei den Austauschfahrten mit der Schule kennengelernt hatte. Es ist herrlich, meine Verbindung zur Zukunft.