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Ägypten: Die Revolution ist nicht zu Ende

Die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo Anfang 2011 sind vielen noch in guter Erinnerung. Ein Jahr danach hat Manfred Brinkmann, GEW-Referent für Internationales, die neue ägyptische Lehrergewerkschaft ISTT besucht.

Foto: Manfred Brinkmann

Die 'Independent Federation of Egyptian Teachers' (ISTT) wurde im Juli 2010 noch vor Beginn der ägyptischen Revolution als erste unabhängige Interessenvertretung von Lehrerinnen und Lehrern an öffentlichen Grund- und Sekundarschulen gegründet. Bis dahin existierte für die Lehrkräfte in Ägypten nur eine Staatsgewerkschaft, die als verlängerter Arm des Bildungsministeriums fungierte. Der Generalsekretär dieser Staatsgewerkschaft ist gleichzeitig auch der ägyptische Bildungsminister. Die Mitgliedschaft in der Staatsgewerkschaft war (und ist) Voraussetzung für die Beschäftigung als Lehrkraft an einer öffentlichen Schule. Die Gründung der ISTT erfolgte damals außerhalb der Legalität. Ihre Arbeit wurde vom Staat behindert, ihre Mitglieder verfolgt, misshandelt und inhaftiert. Aktivisten der ISTT nahmen vor einem Jahr an den Protesten teil, die am 25. Januar 2011 begannen und nach 18 Tagen schließlich zum Sturz des langjährigen Präsidenten Mubarak führten. Die ISTT versteht sich als Teil der revolutionären Bewegung in Ägypten und ist seit März 2011 auch Mitglied der Bildungsinternationale, des Dachverbands von 400 Bildungsgewerkschaften mit weltweit dreißig Millionen Mitgliedern, dem auch die GEW angehört.

Die ägyptische Revolution hat zu einer de facto Anerkennung der neuen unabhängigen Gewerkschaften geführt, die unter dem alten Regime nur im Untergrund tätig werden konnten. Rechtlich ist die Arbeit der neuen Gewerkschaften jedoch bisher nicht abgesichert, da die Arbeitsgesetze aus der Mubarak-Zeit weiterhin gültig sind. Die Existenz der Gewerkschaftsstrukturen des alten Regimes ist ein großes Hindernis für die Entwicklung autonomer und demokratischer Gewerkschaften in Ägypten. Solange die alten Gewerkschaften fortbestehen und Pflichtbeiträge der Beschäftigten einziehen, ist es sehr schwierig für die neuen Gewerkschaften, Arbeitnehmer davon zu überzeugen, ihre Mitgliedschaft in den Staatsgewerkschaften aufzukündigen und den unabhängigen Gewerkschaften beizutreten, zumal sie damit auch soziale Leistungen wie Krankenversicherung und Rentenansprüche verlieren würden, die von den alten Gewerkschaften verwaltet werden. Die neuen Gewerkschaften fordern deshalb eine Reform des undemokratischen Arbeitsgesetzes, ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in den Staatsgewerkschaften und eine Anwendung der Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Ägypten. Die Muslim Bruderschaft, die nach den nationalen Wahlen 2012 die Mehrheit im neu gewählten ägyptischen Parlament stellt, hat bisher jedoch wenig Interesse an einer Änderung des alten Arbeitsgesetzes gezeigt. Im Gegenteil gibt es Befürchtungen der neuen Gewerkschaften, dass die Muslim Bruderschaft die alten Gewerkschaften und ihre Strukturen übernehmen und für ihre Zwecke nutzen könnte.

Streikbewegung für bessere Bezahlung

Neben dem Fortbestehen der alten Gewerkschaften aus der Mubarak-Zeit sehen sich die neuen unabhängigen Gewerkschaften mit zahlreichen weiteren Herausforderungen konfrontiert, die typisch für Übergangsphasen von der Diktatur zur Demokratie sind: Fehlen von Geld und Kommunikationsmitteln, mangelnde Erfahrungen mit demokratischen Strukturen und Entscheidungsprozessen, interne Konkurrenzen und Rivalitäten, Fehlen erfahrener Führungspersönlichkeiten sowie Widerstände und Gegenangriffe seitens der alten, korrupten Strukturen in Staat und Gesellschaft. An der gewerkschaftlichen Basis, in Betrieben, Verwaltungen und Schulen ist jedoch weiterhin viel in Bewegung: Ständig finden irgendwo im Land Streiks und Protestaktionen statt, gründen sich neue, lokale Gewerkschaftsgruppen. Im September 2011, zu Beginn des neuen Schuljahrs, hatte die Lehrergewerkschaft ISTT zu einem nationalen Streik aufgerufen, um ihrer Forderung nach Gehaltserhöhungen für Lehrkräfte Nachdruck zu verleihen. In Ägypten arbeiten rund 800.000 Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen. Davon sind etwa vierzig Prozent befristet beschäftigt.

Im Durchschnitt verdienen Lehrkräfte an öffentlichen Schulen umgerechnet zwischen 75 und 150 Euro monatlich, was selbst bei den niedrigen Lebenshaltungskosten in Ägypten zum Überleben nicht ausreicht. Viele sind daher gezwungen, sich durch zusätzlichen Privatunterricht oder andere Tätigkeiten (z.B. Taxifahren) ein Zusatzeinkommen zu verschaffen. Die Beteiligung am Lehrerstreik war landesweit sehr unterschiedlich und lag je nach Region zwischen zehn und sechzig Prozent. Obwohl das Bildungsministerium versuchte, durch Einschüchterungen die Zahl der streikenden Lehrkräfte gering zu halten, gelang der ISTT dennoch eine breite Mobilisierung und große öffentliche Wahrnehmung, die zu ersten Verhandlungen mit dem Ministerium führten, jedoch zu keinen nennenswerten Gehaltserhöhungen.

In dieser Zeit entstanden hunderte neuer lokaler Gewerkschaftsinitiativen, die den Streik unterstützten. „Die ägyptische Revolution ist nicht zu Ende. Sie hat gerade erst angefangen“, meint Abdulhafeez Tayel, internationalen Sekretärs der ISTT. Doch offen ist, wohin die Revolution führen wird. Die Zukunft der ISTT und anderer unabhängiger Gewerkschaften, die sich im Zuge der Revolution gebildet haben, wird sehr davon abhängen, ob es gelingt, ein neues Arbeitsgesetz durchzusetzen, das die gewerkschaftliche Freiheit garantiert und dem bisherigen Monopol der Staatsgewerkschaften ein Ende macht. Dafür bedarf es national und international politischen Drucks auf die ägyptische Regierung. Es ist die Aufgabe der Bildungsinternationale und ihrer Mitgliedsgewerkschaften, die neuen, unabhängigen Gewerkschaften in Ägypten dabei zu unterstützen und sie zu stärken.