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Schulwechsel

Ade Gymnasium!

Der Run aufs Gymnasium hält unvermindert an. Doch ist diese Schule wirklich die beste Wahl für die Kinder? Die Autorin, selbst Gymnasiallehrerin und Mutter eines Grundschülers, hat mit Blick auf ihren Sohn begründete Zweifel.

„Und, habt ihr schon entschieden, auf welches Gymnasium ihr Jonas schickt?“ Diese Frage höre ich, seitdem mein Sohn in der ersten Klasse ist, seit der dritten Klasse aber immer drängender und in immer kürzeren Abständen. „Ich weiß ja noch nicht einmal, ob Jonas überhaupt aufs Gymnasium gehen wird“, antworte ich ehrlich. Die folgenden Reaktionen schwanken zwischen betretenen Blicken und mitleidigem Schweigen: nicht aufs Gymnasium, oh je. Sobald sich mein Gegenüber von dem „Schock“, dass ich offenbar ein dummes Kind habe, erholt hat, folgen sogleich „tröstende“ Worte wie „Vielleicht entwickelt er sich noch?“ oder „Na, es müssen ja auch nicht alle studieren!“

Wenn das Gespräch längst vorbei ist, spüre ich immer noch den Unmut in mir. „Mein Sohn ist nicht dumm!“, würde ich den anderen Müttern und Vätern am liebsten hinterherrufen. Im Gegenteil, ich finde ihn aufgeweckt, interessiert und clever. Aber irgendwie nicht gymnasial – jedenfalls nicht in dem Sinne wie hierzulande die Gymnasien funktionieren. Während andere Kinder in seinem Alter ein Buch nach dem anderen verschlingen, liest Jonas allenfalls Comics. Seine liebevollen Nachrichten an mich sind bunt verziert, aber mit etlichen Rechtschreibfehlern gespickt. Und während das Nachbarskind die Hausaufgaben bereits sauber und ohne Elternhilfe erledigt hat, diskutiere ich immer noch mit meinem Sohn, ob drei Zeilen als fertiger Aufsatz gelten oder nicht.

Eine Stunde später sind Mutter und Kind im Gegensatz zu den Hausaufgaben erledigt, das Heft liegt verlassen auf dem Tisch („Ne, Mama, das pack ich jetzt wirklich nicht weg, das kannst du machen!“), und ich weiß genau: Auf dem Gymnasium werden die Anforderungen nicht weniger. Warum soll ich meinem Kind und mir das antun? Zumal es neben dem direkten Weg genug Parallelstraßen zum Abitur gibt wie Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe oder den Besuch eines Berufsgymnasiums nach dem mittleren Schulabschluss. Doch als wirklich gesellschaftsfähig gilt vielen Eltern offenbar nur das Gymnasium.

Als Klassenlehrerin in der Eingangsstufe eines Gymnasiums erlebe ich immer wieder Kinder, die scheitern und dann aussortiert werden.

Bei uns in Schleswig-Holstein gibt es als Schulform nach der Grundschule nur das Gymnasium oder die Gemeinschaftsschule (teilweise mit, häufiger ohne eigene Oberstufe). Da versuchen die meisten Eltern erst einmal, ihr Kind auf einem Gymnasium unterzubringen, anstatt auf einer vermeintlichen „Resteschule“. Auch ich mache mir Gedanken, wie Jonas’ Schulleben an einer Gemeinschaftsschule aussehen könnte. Um ehrlich zu sein: In meinem Kopf wabern genug Vorurteile herum, und ich sehe Jonas vor meinem geistigen Auge nach der Schule mit falschen Freunden auf der Straße herumlungern. Und lernt mein Kind an der Gemeinschaftsschule überhaupt genug? Sollten wir ihn nicht doch lieber auf ein Gymnasium schicken und mit ein wenig Nachhilfe pushen? Aber noch größer als all diese Bedenken ist meine Sorge, dass mein Sohn von der Schule überfordert wird und ihm keine Zeit mehr zum Spielen bleibt.

Als Klassenlehrerin in der Eingangsstufe eines Gymnasiums erlebe ich immer wieder Kinder, die scheitern und dann aussortiert werden. Leider auch oft vorhersehbar, weil sie trotz schlechter Noten und Beratungsgespräch auf Elternwunsch bei uns angemeldet wurden. Für diese Kinder ist es ein langer Kampf, und am Ende bleibt oft das ungute Gefühl, versagt zu haben. An der neuen Schule müssen die Kolleginnen und Kollegen dann als erstes „Aufbauarbeit“ leisten, damit die Kinder wieder Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten gewinnen. Mein Mann und ich haben uns jedenfalls fest vorgenommen, uns bei der Schulwahl für Jonas nicht verrückt machen zu lassen. Bis dahin genieße ich die Grundschulzeit und lächle lästige Fragen einfach weg: alles zu seiner Zeit!