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Hausaufgaben

„Ach, das mach ich nebenher...“

Wer erledigt eigentlich die Hausaufgaben? Die Schülerinnen und Schüler? Oder deren Eltern? Weil eine Gymnasiallehrerin zunehmend Zweifel an Sinn und Zweck der Heimarbeit und ihren Kontrollen bekam, schaffte sie diese ab. Und alle profitieren.

„Jannes und ich haben im Bioreferat eine 1 bekommen“, berichtete meine Schwester mir stolz. Wahrlich ein Grund zur Freude, wenn meine Schwester nicht schon vor über 25 Jahren erfolgreich ihr Abitur bestanden hätte und die Mutter von Jannes wäre. Und das war bei weitem nicht das einzige Mal, dass sie meinem Patenkind bei den Hausaufgaben „half“. Ein anderes Mal erlebte ich, wie sie ganz selbstverständlich für Jannes Pflanzen sammelte („Er hat einfach keine Lust dazu, aber soll es in zwei Wochen abgeben“), diese in Bücher presste („Ach, das mach ich nebenher beim Kochen, kein Problem“) und anschließend ordentlich beschriftet in ein Buch klebte („Er weiß ja gar nicht, wie die Pflanzen alle heißen und ehe ich ihm das alles erklärt habe ...“).

Ich glaube, auch dafür erzielte mein Patenkind – oder doch eher meine Schwester? – eine sehr gute Note. Und diese beiden Beispiele waren keine Ausnahmen in Jannes’ Schulkarriere. Meine nicht berufstätige Schwester setzte ihre Co-Schüler-Karriere bei Kind 2 fort und begann mit diesem auch das Erlernen einer neuen Fremdsprache („Ich hatte das ja in der Schule nicht, und wenn ich es jetzt mitlerne, kann ich ihm viel besser bei den Hausaufgaben helfen“).

Ich hinterfragte die Hausaufgaben, die ich so regelmäßig und jahrelang unbedacht meinen Schülerinnen und Schülern mit auf den Heimweg gegeben hatte.

Regelmäßig verfälschte meine Schwester nun die Hausaufgaben ihrer beiden Söhne, und als Lehrerin an einem Gymnasium konnte ich darüber nur den Kopf schütteln. Hausaufgaben, so lernte ich im Referendariat, sollen der Übung, Anwendung und Vertiefung des Stoffes dienen, und zwar beim Schüler, nicht bei den Eltern. Bislang war ich davon ausgegangen, dass die Eltern meiner Schülerinnen und Schüler nur gelegentlich mal einen Blick auf die Hausaufgaben warfen. Aber so langsam dämmerte mir, dass ich bestimmt schon häufiger die Leistungen der Eltern, der großen Schwester oder vermutlich am häufigsten des Sitznachbarn im Bus korrigiert und benotet hatte.

Und mir drängte sich immer mehr die Frage auf: Müssen Hausaufgaben sein? Helfe ich damit wirklich den Schülerinnen und Schülern beim Lernprozess? Oder sorge ich nur für schlechte Stimmung am Familientisch („Was, du hast die Hausaufgaben in Mathe noch nicht fertig? Dann kannst du dein Fußballtraining heute aber vergessen“) und für getrübte Urlaubsstimmung („Ich muss in den Ferien noch das Referat vorbereiten, das soll ich gleich am ersten Schultag halten“)? Betrieb ich jahrelang Hausfriedensbruch?

Ich hinterfragte die Hausaufgaben, die ich so regelmäßig und jahrelang unbedacht meinen Schülerinnen und Schülern mit auf den Heimweg gegeben hatte. Was davon hat sie tatsächlich weiter gebracht, und welche Hausaufgaben hatte ich nur um ihrer selbst willen – die Kinder sollen schließlich zu Hause üben und was für die Schule machen – gegeben? Den entscheidenden Ausschlag bei der Überarbeitung meiner Aufgabenstellung brachte die Umstellung meines Bundeslandes auf das sogenannte G8.

Ich übernahm eine der ersten 5. Klassen, die nach nur 12 Jahren Schulzeit, dafür aber mit komprimiertem Stoff und mehr Wochenstunden als ihre Mitschüler in den Jahrgängen zuvor, das Abitur erreichen sollten, als Klassenlehrerin. Und spätestens auf dem ersten Elternabend wurde klar: Die Situation wird für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern nur dann einigermaßen entspannt, wenn die Zahl der Hausaufgaben deutlich reduziert wird. In meinem „Nebenfach“ Biologie fiel es mir nicht schwer, keine Hausaufgaben aufzugeben – außer mal das Lernen für einen Test. In Mathe machte ich mir mehr Sorgen: Wie sollen die Schülerinnen und Schüler genug Routine entwickeln und ausreichend üben?

Die Stunden beginnen deutlich entspannter, wenn nicht gleich in der ersten Minute all jene am Lehrertisch stehen, die die Hausaufgaben nicht dabeihaben.

Mittlerweile bin ich entspannter geworden. Viele der von mir gestellten Aufgaben dienten eher als „Lückenfüller“ und waren zum Üben gar nicht mehr nötig. Die Zeit im Unterricht kann durchaus ausreichen, um zu üben. Hilfreich war die Einführung möglichst vieler Doppelstunden statt der bisher üblichen Einzelstunden an meiner Schule. Die 90 Minuten boten plötzlich genug Zeit, ein Thema sowohl zu erarbeiten als auch das neue Wissen anzuwenden. Die Hilfestellung beim Üben musste nun nicht mehr von den Eltern kommen, sondern wird von der Person geliefert, die dafür ausgebildet ist: der Lehrerin. Im Gegenzug erhalte ich dafür unverfälschte Ergebnisse, die wirklich von meinen Schülerinnen und Schülern stammen. Und wer nicht alle Aufgaben geschafft hat, darf diese natürlich freiwillig noch zu Hause fertigstellen und mir auch jederzeit zur Kontrolle abgeben (ohne Note!).

Unverhofft ergab sich bei dieser Änderung der Hausaufgabenkultur noch ein positiver Nebeneffekt. Die Stunden beginnen deutlich entspannter, wenn nicht gleich in der ersten Minute all jene am Lehrertisch stehen, die die Hausaufgaben nicht dabeihaben. Ich muss nicht mehr überlegen, ob ich Fritz glauben soll („Paul kann das bezeugen, er war gestern bei mir zu Besuch, und wir haben das zusammen gemacht“) und mir hinterher von Janina anhören, wie ungerecht es sei, dass sie einen Strich für fehlende Aufgaben bekommt, Fritz aber nicht.

Außerdem entfällt die lästige und zeitaufwändige Buchführung über die nicht gemachten Hausaufgaben, das Überprüfen, ob sie nachgemacht wurden, das Kontrollieren der elterlichen Unterschrift, die ja wissen sollen, dass ihr Kind wieder mal nicht gründlich gearbeitet hat ... Dafür bekomme ich zehn wertvolle Unterrichtsminuten, in denen die Schülerinnen und Schüler allein, zu zweit oder in Gruppen eine Aufgabe rechnen können, die sie sonst zu Hause hätten machen müssen. Insgesamt profitiere ich also ebenso von weniger Hausaufgaben wie die Schüler und die Eltern.

Mein Patenkind hat übrigens mittlerweile das Abitur bestanden und da „eine Mutter“ nicht auf der Liste der zulässigen Hilfsmittel der Abiturklausuren stand, sogar ganz allein ...

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung aus dem Magazin „Schule“ (Ausgabe 4/2016) übernommen.