30 Jahre Ost-West
Abstimmung mit den Füßen
Anlässlich des Mauerfalls vor 30 Jahren startet „E&W“ eine Serie zur Entwicklung der Ereignisse bis zum 3. Oktober 1990. Den Auftakt macht ein Interview mit der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig.
- E&W: Der Schriftsteller Stefan Heym -sagte am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz: „Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.“ Sie waren 1989 Lehrerin in Karl-Marx-Stadt. Was ging Ihnen in diesen Tagen durch den Kopf?
Barbara Ludwig: Für mich war vor allem die Demonstration in Leipzig von Bedeutung; das war ein Schlüsselereignis für mich, das signalisierte: Jetzt ist es Zeit, selbst auf die Straße zu gehen!
- E&W: Sie haben 1989 in Karl-Marx-Stadt die „Bürgerinitiative Pädagogik“ mitgegründet, die unter anderem für ein Bildungswesen ohne wehrpolitische und ideologische Inhalte eintrat. Aus dieser Initiative ging 1990 das Chemnitzer Schulmodell hervor. Wollten Sie damals eine andere Schule in einer anderen DDR oder war der Blick schon gen Westen gerichtet?
Ludwig: Uns Lehrern und den Eltern ging es zuerst darum, die Schule in der DDR zu ändern. Ausgangspunkt war unsere Kritik an der DDR-Pädagogik: die Uniformierung im Schulalltag, die Ideologisierung, ein auf Disziplin ausgerichteter Unterricht, die Unterdrückung von Individualität. Nach der Maueröffnung hatten wir die Möglichkeit, uns Schulen im Westen anzuschauen; umgekehrt besuchten uns Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesrepublik.
- E&W: Zu welchen Erkenntnissen sind Sie durch diese Kontakte gelangt?
Ludwig: Zu ganz unterschiedlichen. Vor allem aber waren wir uns nach den Schulbesuchen im Westen sicher, dass die frühe Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Bildungsgänge im Alter von zehn Jahren nicht nachahmenswert ist. Bemerkenswert war die Frage einer Kollegin aus Düsseldorf, das seit 1988 Partnerstadt von Karl-Marx-Stadt war. Nachdem sie in meinem Unterricht hospitiert hatte, äußerte sie sich erstaunt darüber, dass man den Schülerinnen und Schülern in meiner Klasse nicht an der Kleidung oder dem Benehmen ansehen könne, welchen Beruf ihre Eltern haben. Aber wir nahmen auch viele positive Anregungen aus diesen Kontakten mit. Auf der Basis der Schulbesuche in der Bundesrepublik ist schließlich das Chemnitzer Modell entstanden, das auf dem Gedanken der Toleranz, der Förderung von Selbstbewusstsein, Kreativität sowie Friedens- und Sozialfähigkeit fußt. Bis heute gibt es übrigens in dieser Schule Ziffernzensuren erst ab der 8. Klasse.
- E&W: Der Umbruch in der DDR kam zwar plötzlich, aber abgezeichnet hat er sich schon in der Dekade zuvor. Gerhart Neuner, der von 1970 bis Dezember 1989 Präsident der Akademie der pädagogischen Wissenschaften war und maßgeblich die DDR-Pädagogik prägte, meinte 1992 rückblickend, die Krisensymptome seien in der DDR von Jahr zu Jahr deutlicher geworden. Schon Anfang der 1980er-Jahre habe auch er nicht mehr leugnen können, dass es einen Wertewandel in der Jugend gebe, dass sich die jungen Menschen von der SED abwendeten. Die Symptome seien in der Wissenschaft erkannt, von der Politik aber ignoriert worden. Wie haben Sie diese Phase der DDR erlebt?
Ludwig: Bei mir kam der Wandel schon während meines Studiums von 1978 bis 1982. Ich bin deshalb von der Leistungsstipendiatin zur einfachen Studentin „degradiert“ worden, stand kurz vor der Exmatrikulation. Mir fiel auf, dass sich die Methodik, die uns Studentinnen und Studenten vermittelt wurde, nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientierte. Wir wurden dazu angehalten, die Kinder so zu erziehen, dass nur noch geschlossene Fragen-Antwort-Schemata möglich waren, also die Kinder auf Fragen nur noch mit „Ja“ oder „Nein“ antworten sollten. Auch in der Schulpraxis waren die Zustände nicht kindgerecht. Die Schulen waren überfüllt, und die Schülerinnen und Schüler mussten sich in einer Reihe anstellen, wenn sie auf die Toilette wollten.
- E&W: Wie reagierten Sie als junge Pä-da-gogin auf diese Zustände?
Ludwig: Ich durfte zunächst wegen meiner Kritik, die ich auch vernehmlich vorgetragen habe, nicht als Lehrerin arbeiten, sondern wurde als Horterzieherin eingestellt. Auch da eckte ich an. Die Kinder sollten zum Beispiel Mittagschlaf halten, in sehr großer Enge und Unruhe; ich bin mit den Kindern, wann immer das Wetter es zuließ, rausgegangen in die Natur, habe sie spielen lassen. Das hat der Schulleiterin nicht gefallen.
- E&W: Wie wirkten sich diese Verhältnisse auf die Kinder aus?
Ludwig: Vor allem die Jungs fielen auf. Sie haben sich oft geprügelt. Jungs haben oft noch einen größeren Bewegungsdrang als Mädchen, der aber durch diese rigide, auf Disziplinierung setzende Pädagogik eingeengt wurde. Sie konnten nicht anders, als mit Aggression zu reagieren. Man darf ja auch nicht vergessen, dass für viele Kinder in der DDR der Schultag äußerst lang war; manche standen schon kurz vor 6 Uhr vor der Tür und durften erst zwischen 17 und 18 Uhr nach Hause gehen. Dazwischen gab es für sie kaum wirkliche Erholungsphasen und Zeit fürs Toben. Deshalb haben wir beim Chemnitzer Schulmodell von Anfang an darauf gesetzt, dass die Klassenräume nicht verschlossen sind, dass die Kinder jederzeit raus und sich bewegen können. Ich war froh, dass mit der Wende die Chance bestand, etwas zu ändern.
- E&W: Um nochmal Stefan Heym aus seiner Alexanderplatz-Rede zu zitieren: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief.“ Im Bildungssektor wurde das Fenster – bildlich gesprochen – schon wenige Monate nach dem Mauerfall wieder geschlossen. Durchgesetzt haben sich im vereinigten Deutschland weder die Gesamtschule und erst recht nicht die Reformpädagogik, wie sie im Chemnitzer Schulmodell praktiziert wird. Im Rückblick erscheint das einerseits die logische Konsequenz aus der Dominanz des Westens über den Osten zu sein, andererseits gibt es auch Stimmen, die von einer verpassten Chance sprechen. Gab es diese Chance wirklich oder hat die Grünen-Politikerin Sybille Volkholz recht, die von einer Abstimmung mit den Füßen spricht?
Ludwig: Diese Abstimmung mit den Füßen hat es in der Tat gegeben. Viele DDR-Bürger wollten das Gymnasium, weil es sozusagen der Gegenentwurf zum DDR-Schulmodell schien und Ausdruck des Neuen; alles Alte musste in ihren Augen weg.
- E&W: Volkholz, 1989/90 Berliner Bildungssenatorin, berichtet, dass viele Eltern aus Ost-Berlin nach dem Mauerfall ihre Kinder an West-Berliner Gymnasien angemeldet hätten und der Politik gar nichts anderes übriggeblieben sei, als im Ostteil Gymnasien einzurichten; selbst Politiker aus dem Osten hätten auf diese Schnelligkeit gedrängt.
Ludwig: Die Verantwortung dafür tragen aber westdeutsche Politiker. So wie keine gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet wurde, die zu einer inklusiven Bundesrepublik geführt hätte, wurde auch das westdeutsche Schulmodell dem Osten übergeholfen, anstatt uns Freiheiten zu lassen, andere Wege zu gehen. Ich bin überzeugt: Hätte der Osten diese Freiheiten gehabt, gäbe es heute mehr Schulen mit einem längeren gemeinsamen Lernen.