- E&W: Wann wird die Droge zum Problem, Herr Leune?
Jost Leune: Es gibt eine Faustregel: Wenn die Zeit, die ich brauche, um die Droge zu beschaffen und zu konsumieren, so umfangreich wird, dass ich lebenswichtige Dinge wie Familie, Ausbildung oder Arbeit vernachlässige, das Leben in der Gemeinschaft aufs Spiel setze. Das sind Indikatoren, die anzeigen, dass es kritisch wird und der Moment da ist, in dem Hilfe nötig ist.
- E&W: Sie haben einmal gesagt, Suchthelfer seien bemüht, Haltungen zu ändern, Probleme nicht zu verdrängen, sondern darüber zu reden. Wie gehen Sie in der Arbeit mit Süchtigen vor?
Leune: Entwickelt sich Abhängigkeit, ist sie meist von drei Faktoren bestimmt: dem Lebensumfeld, der Wirkung der Substanzen, der persönlichen Struktur. Und genau in dieser Trias behandeln wir. Wir gehen systemisch vor, schauen uns an, wie der Suchtkranke in seiner Umwelt lebt, wie sein Sozialraum aussieht, und analysieren, wo es hakt und was seine Lage verbessern könnte. Zunächst aber ist es wichtig, Menschen zu motivieren, darüber zu reden, was ihnen zu schaffen macht. Erst danach wird gefragt, warum sie zur Droge greifen. In der Therapie versuchen wir, gemeinsam Alternativen zum Drogenkonsum zu entwickeln. Das erfordert vom Abhängigen, bereit zu sein, das eigene Verhalten zu ändern.
- E&W: Wie werden Suchtkranke in Deutschland versorgt?
Leune: Die Versorgung von Suchtkranken in Deutschland ist – gemessen an den europäischen Nachbarländern – ganz gut. Wir haben ein gut ausdifferenziertes Hilfesystem, das in der Lage ist, dem Abhängigen vom ersten Moment an zu helfen. Es gibt bundesweit etwa 1.400 Beratungsstellen für Suchtkranke, etwa 15.000 Therapieplätze stehen zur Verfügung, 100.000 Plätze stellt die Eingliederungshilfe bereit. Und trotzdem erreichen wir jährlich nur ein Viertel der Betroffenen.
- E&W: Woran liegt das? An der Finanzierung?
Leune: Das ist ein ganz wesentlicher Faktor. Wir haben die merkwürdige Situation, dass ambulante Angebote der Suchthilfe weitestgehend über freiwillige Zuschüsse von Kommunen und Bundesländern und die anderen Hilfen aus jeweils unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern finanziert werden. Das macht enorme Probleme.
- E&W: Inwiefern?
Leune: Immer dann, wenn eine neue Maßnahme ansteht, wechselt die Finanzierung in einen anderen Zuständigkeitsbereich. Die oder der Betroffene muss einen Neuantrag stellen, das kostet Zeit. Für den Abhängigen kann es zu Brüchen in der Behandlung kommen. An gesetzlichen oder bürokratischen Hürden scheitern ganz viele.
Schulleitungen und Lehrkräfte sollten zur Kenntnis nehmen, dass im Schnitt etwa 10 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die älter als 15 Jahre alt sind, illegale Drogen konsumieren.
- E&W: Wie klappt die Zusammenarbeit zwischen Suchthilfe und Schulen?
Leune: Schulen neigen leider dazu zu behaupten, dass es keine Drogenprobleme in ihrem Umfeld gebe. Vielleicht, weil sie glauben, das mache andernfalls nach außen einen schlechten Eindruck. Aber Schulleitungen und Lehrkräfte sollten zur Kenntnis nehmen, dass im Schnitt etwa 10 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die älter als 15 Jahre alt sind, illegale Drogen konsumieren.
- E&W: Was sollten Schulen tun?
Leune: Mehr Achtsamkeit wäre geboten. Aber auch mehr Bereitschaft, sich zu vernetzen. Wie schwierig es ist zu kooperieren, merken wir, wenn wir versuchen, unter allen Experten, die im psychosozialen Feld tätig sind, regionale Netzwerke zu knüpfen. Da ist es nicht einfach, Schulen mit ins Boot zu holen. Diese sollten stärker bereit sein, mit psychosozialen Diensten enger zu kooperieren, damit sie den Mädchen und Jungen nicht nur Bildung, sondern auch ein gesundes Aufwachsen ermöglichen. Und: Suchtprävention sollte regulärer Bestandteil des Lehrplans sein.
- E&W: Es wird oft eine „alternative Drogenpolitik“ gefordert. Was ist damit gemeint?
Leune: Das Schlagwort „alternative Drogenpolitik“ zielt darauf, dass es im Zusammenhang mit Drogenkonsum keine staatliche Repression gibt und der Drogenkonsum sowie die Beschaffung illegaler Drogen nicht bestraft werden. In der Tat ist es so, dass Politik eine kluge, abgewogen ethische Entscheidung treffen sollte, welche Substanzen, von wem kontrolliert, genutzt werden können und welche sich nicht dazu eignen, weil sie zu riskant sind. Eine Herausforderung für den Gesetzgeber, hier Lösungen zu finden. Ein erster Schritt wäre, die im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) festgelegten Strafen für bestimmte Delikte aufzuheben. Drogenkonsum darf keine Straftat sein. Drogenabhängigkeit ist eine Krankheit und sollte nicht kriminalisiert werden.
- E&W: Was kritisieren Sie an der Drogenpolitik?
Leune: Was uns fehlt, ist ein Bund-Länder-Dialog über die Folgen der Abhängigkeit sowie über die Frage, ob beispielsweise der gesamte Suchthilfebereich nicht anders zu organisieren wäre. Was ebenso fehlt, ist die Bereitschaft des Bundes, zu überprüfen, ob die Bestimmungen im BtMG so festgezurrt bleiben müssen, wie sie es derzeit sind.
- E&W: Stattdessen sollte was geschehen?
Leune: Politik sollte Kommunen in die Lage versetzen, ausreichend Unterstützungssysteme für Suchtkranke finanzieren zu können. Der Punkt: Bund und Länder lassen die Kommunen mit Drogenproblemen und den Folgekosten ziemlich allein. Diese müssen ambulante Hilfen als Zuschüsse aus der Gemeindekasse bezahlen. Das ist ein nicht haltbarer Zustand, wenn man bedenkt, dass der Bund allein im legalen Bereich über die Einnahmen aus Alkohol, Tabak und Glücksspiel Millionen Euro einkassiert. Die Behandlungskosten für Erkrankte landen aber bei der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten oder der Sozialhilfe. Allein bei Alkoholsüchtigen betragen die volkswirtschaftlichen Folgekosten 40 Milliarden Euro jährlich, bei Drogenabhängigen sind es etwa 20 Milliarden Euro. Wir brauchen dringend ein anderes Finanzierungssystem.
- E&W: Würde eine eingeschränkte „Drogenfreigabe“ helfen?
Leune: Ja, allerdings: Würden Substanzen, die bisher verboten sind, freigegeben, müsste andererseits in Prävention und Suchthilfe mehr Geld investiert werden. Natürlich sollten wir uns immer darüber im Klaren sein, um welche Substanzen es sich bei einer Freigabe handelt, und um die Gefahren wissen. Zudem: Nicht alle Menschen sollten freien Zugang zu allen Drogen erhalten. Gerade für junge Leute wären sogenannte Zugriffsbeschränkungen einzuführen und die Zugriffsnähe zu begrenzen. Ein 16-Jähriger sollte sich weder Heroin noch Cannabis oder Alkohol „einfach“ besorgen können. Das ist auch eine Botschaft an die Politik.