#IchBinHanna
65.000 Stimmen für eine Reform des WissZeitVG
„Stoppt die Dauerbefristung in der Wissenschaft“: Zigtausendfach wurde die Petition eines von Campact unterstützen Bündnisses aus GEW und 17 weiteren Organisationen unterzeichnet. Am 12. Juni wurde sie dem Bundestag übergeben.
Fast auf den Tag drei Jahre nachdem das Bundesbildungsministerium mit einem Video über die glücklich prekär beschäftigte Biologin „Hanna“ eine bis heute anhaltende Protestwelle lostrat, bot sich zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt am 12. Juni ein ungewohntes Bild. Ein ganzer Pulk von Hannas hatte sich dort aufgestellt, alle mit Hanna-Masken, manche sogar mit Hanna-Laborkittel. „Mitglieder des Bundestags: Stoppt die Dauerbefristung in der Wissenschaft“ stand auf dem Transparent, das sie hielten.
„Die Dauerbefristung raubt mir jede Kreativität“
Nahezu wortgleich heißt eine Petition, die den Vertreterinnen und Vertretern von 18 Organisationen – unter ihnen die GEW – ein schlagkräftiges Argument an die Hand gibt, das Bundesbildungsministerium und den Bundestag zu einer umfassenden Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) aufzufordern: Mehr als 65.000 Menschen haben unterschrieben. Gesammelt wurden die Unterschriften in einem Ordner; in einem zweiten Ordner dokumentiert das Bündnis Briefe von Betroffenen, von denen Auszüge auf mitgebrachten Schildern standen: „Die Dauerbefristung raubt mir jede Kreativität“ stand auf einem, auf einem anderen gestand eine „Hanna“, sie habe sich „längst abgewöhnt, junge Leute zu einer akademischen Laufbahn zu ermutigen.“
Kritik auch aus den Reihen der Ampel-Koalition
Wenig Anklang findet der im März vom Kabinett verabschiedete Reform-Entwurf des WissZeitVG offenbar auch in der Ampel-Koalition. Mit Carolin Wagner von der SPD und Kai Gehring von den Grünen gesellten sich Abgeordnete von gleich zwei Regierungsparteien zu den Demonstrierenden. „Der Entwurf stammt aus dem FDP-regierten Bundesbildungsministerium. Meine Zustimmung hat und bekommt er nicht“, erklärte SPD-Wissenschaftsexpertin Carolin Wagner, die schon bei der GEW-Wissenschaftskonferenz in Bremerhaven im März deutliche Kritik geübt hatte. Kai Gehring als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung nahm die Petition „sehr gern“ entgegen: „Über 65.000 Unterschriften, das ist eine Hausnummer“, erklärte Gehring, und sicherte zu, „auch die Berichte von Betroffenen gründlich zu lesen.“ „Prekarität und unfaire Arbeitsbedingungen“ in der Wissenschaft seien Themen, die auch den Bildungsausschuss regelmäßig beschäftigten.
Stoppt die Dauerbefristung in der Wissenschaft
An: Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger, Kai Gehring und Dr. Petra Sitte (für den Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung) & weitere Mitglieder des Deutschen Bundestags
Gestartet von: Bündnis zum WissZeitVG
Wir sind auf eine starke Wissenschaft angewiesen, zum Beispiel um die sozialen und technologischen Herausforderungen von Klimakrise oder Digitalisierung zu meistern. Das geht nur mit fairen Arbeitsbedingungen – doch viele Wissenschaftler*innen an Hochschulen und öffentlichen Forschungseinrichtungen arbeiten in prekären Verhältnissen. Fast neun von zehn wissenschaftlichen Angestellten an Universitäten sind befristet beschäftigt, 42 Prozent der Arbeitsverträge haben eine Laufzeit von unter einem Jahr. Planbarkeit für Lebenswege oder anspruchsvolle Projekte gibt es so nicht. Das muss sich ändern.
Der vorliegende Entwurf zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bleibt weit hinter den eigenen Versprechen der Ampel-Koalition zurück. Frau Ministerin Stark-Watzinger, die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft lassen sich so nicht bekämpfen. Wir fordern jetzt vom zuständigen Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung: Überarbeiten Sie den Entwurf grundlegend und bringen Sie eine echte Reform auf den Weg!
Im Einzelnen fordern wir
- Verträge für Promovierende, die den tatsächlichen Promotionszeiten entsprechen – also sechs, mindestens jedoch vier Jahre Regellaufzeit
- Dauerstellen für Daueraufgaben in Lehre und Forschung: Zeitverträge sind nur für die Qualifizierungsphase gerechtfertigt - diese ist mit der Promotion abgeschlossen
- nach der Promotion entweder unbefristete Beschäftigung oder eine verbindliche Zusage zur Entfristung bei Erfüllung festgelegter Kriterien
- die Streichung der Tarifsperre ohne Wenn und Aber: Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen Verbesserungen für die Beschäftigten aushandeln dürfen – so wie in anderen Branchen auch
- einen verbindlichen Nachteilsausgleich bei Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Behinderung und chronischer Erkrankung sowie bei Nachteilen aus der Coronapandemie
- eine Regelvertragslaufzeit von mindestens zwei Jahren für studentische Beschäftigte
Warum ist das wichtig?
Immer mehr Wissenschaftler*innen wechseln wegen der Dauerbefristung in andere Branchen oder ins Ausland. Das wollen wir stoppen. Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorgelegte Entwurf ist hierfür nicht geeignet, insbesondere für promovierte Wissenschaftler*innen drohen sogar Verschlechterungen. Deshalb brauchen wir mehr öffentlichen Druck.
Was ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)?
Mit dem WissZeitVG haben Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine sehr weitgehende rechtliche Grundlage, Wissenschaftler*innen nur befristet einzustellen. Es stellt damit ein Sonderbefristungsrecht dar, das deutlich mehr befristete Arbeitsverträge ermöglicht als das allgemeine Arbeitsrecht.
Wie kann eine Reform des WissZeitVG für bessere Jobs in der Wissenschaft sorgen?
Wenn ein reformiertes WissZeitVG die Befristungsmöglichkeiten begrenzt, müssen die Arbeitgeber ihre Praxis ändern – und faire Arbeitsbedingungen schaffen.
Gibt es sachliche Gründe für die hohen Befristungsquoten in der Wissenschaft?
Auf dem gesamten deutschen Arbeitsmarkt sind 7,4 Prozent der Beschäftigten befristet. In der Wissenschaft sind es fast 70 Prozent. Das ist extrem viel und nur teilweise durch die Promovierenden zu erklären, deren befristete Einstellung für die Dauer ihrer Qualifizierung nachvollziehbar ist. Auch Postdocs und Wissenschaftler*innen, die Daueraufgaben erfüllen, sind überwiegend befristet beschäftigt. Das muss nicht sein. In Frankreich oder England sind nur knapp 25 Prozent der Wissenschaftler*innen befristet.
Warum ist die wissenschaftliche Qualifizierung mit der Promotion abgeschlossen?
Die Promotion ist die höchste Qualifizierungsstufe sowohl im Europäischen als auch im Deutschen Qualifikationsrahmen. Nach der Promotion ist eine berufliche Fort- und Weiterbildung möglich. Diese rechtfertigt aber keine Befristung der Postdocs. Ob im weiteren Berufsweg Aufstiege erfolgen, für die zusätzliche Erfahrungen und Kompetenzen nötig sind, ist – wie in anderen Branchen – unabhängig von der Befristung der Arbeitsverträge zu betrachten.
Warum brauchen wir neue Regelungen zum Nachteilsausgleich?
Die familien- und behindertenpolitische Komponente im WissZeitVG beruht bisher auf einer freiwilligen Anwendung durch die Arbeitgeber. Planbarkeit für die Beschäftigten schaffen wir nur mit einem verbindlichen Rechtsanspruch.
Bevor die umstrittene WissZeitVG-Reform – laut der Postdoktoranden weiter befristet beschäftigt werden sollen, nun mit einer 4+2-Jahre, statt mit einer 6-Jahres-Regelung – in Kraft treten könnte, müsste das Parlament zustimmen. Dem aber wird er seit Monaten nicht vorgelegt. Laut Gehring ist eine erste Lesung noch vor der Sommerpause kaum wahrscheinlich; im Herbst brauche es dann „endlich einen Durchbruch für verlässliche Perspektiven“.
„Ein Scheitern der WissZeitVG-Reform nach fast drei Jahren Beratungen und Verhandlungen wäre ein kapitales Politikversagen der Ampel-Koalition.“ (Andreas Keller)
Als wichtige Kritikpunkte nannten Gehring wie Wagner außer der Befristung für Postdocs das Weiterbestehen der Tarifsperre, die verhindert, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber im Bereich der Befristung tarifliche Abweichungen aushandeln können. Die Hochschulexpertin der Linken Nicole Gohlke wertete bei der Übergabe der Petition das inzwischen langjährige Engagement der #Ich-bin-Hanna-Bewegung als vorerst letzte Chance, die prekäre Lage von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verbessern. Die Regierungsparteien hätten sich offenbar bis zur Handlungsfähigkeit „verhakt“: „Wenn die Gewerkschaften und Initiativen außerparlamentarisch etwas erreichen, kommen wir vielleicht an einen Punkt, an dem wir im Bundestag wieder ansetzen können.“
GEW-Vize Andreas Keller erinnerte daran, dass der Koalitionsvertrag von 2021 durchaus vorsieht, Dauerstellen für Daueraufgaben in der Wissenschaft zu schaffen und die Planbarkeit und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase „deutlich“ zu erhöhen. Der Hochschulexperte der GEW fordert einen Durchbruch: „Ein Scheitern der WissZeitVG-Reform nach fast drei Jahren Beratungen und Verhandlungen wäre ein kapitales Politikversagen der Ampel-Koalition.“ Was es brauche, sei eine „radikale Reform“.