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Mittelbare Diskriminierung – Was ist das eigentlich?

Grundschullehrer_innen sind in den Ländern niedriger eingruppiert als ihre Kolleg_innen in anderen Schulformen. Das ist mittelbar diskriminierend. Aber was heißt das eigentlich?

Die Differenz macht mehrere hundert Euro aus, und zwar jeden Monat bis zum Ruhestand und damit auch in Pension, obwohl nirgendwo steht, dass Lehrerinnen weniger Geld bekommen sollen als Lehrer. Die GEW geht jedoch davon aus, dass diese Ungleichbehandlung am Geschlecht anknüpft. Denn die Grundschule ist die Schulform mit dem weitaus höchsten Frauenanteil im Kollegium. Die Rechtsprofessorin Dr. Eva Kocher spricht in einem Gutachten, das die GEW in Auftrag gegeben hat, von einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Link).

Laut Definition des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können“ und dies weder sachlich gerechtfertigt noch verhältnismäßig ist (§ 3 (2) AGG). Bei den Gründen, auf die das AGG Bezug nimmt, handelt es sich um Rasse oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Unter einer unmittelbare Diskriminierung wird hingegen eine direkte Benachteiligung aufgrund eines dieser Gründe verstanden (§ 3 (1) AGG). Ein Beispiel ist, dass Frauen für die gleiche Dienstleistung beim Friseur höhere Preise bezahlen als Männer.

 

Rechtliche Grundlagen

Das AGG konkretisiert den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (GG): „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 (1) GG). In den Absätzen 2 und 3 hebt dieser Artikel auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie auf die Gleichbehandlung aufgrund der bereits genannten Merkmale ab.

Außerdem setzt das AGG die Gender-Richtlinie (2006/54/EG) der Europäischen Union in deutsches Recht um. Diese Richtlinie verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Das umfasst auch sämtliche Entgeltbestandteile und -bedingungen. In der Begründung heißt es, der Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche oder gleichwertige Arbeit sei wichtiger Aspekt des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern sowie wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“ und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).

Daneben hat Deutschland die Übereinkommen 100 und 111 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) 1951 sowie das CEDAW-Übereinkommen der UNO 1995 zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau ratifiziert. Auch daraus ergibt sich die Verpflichtung, gegen mittelbare Diskriminierung von Frauen beim Entgelt vorzugehen.

Viele Lehrer_innen sind Beamt_innen. Und in Deutschland gelten Beamt_innen nicht als Arbeitnehmer_innen. Doch die EU kennt eine solche Unterscheidung nicht. Deswegen ist in § 24 AGG festgelegt, dass Beamt_innen in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. Auch für sie gilt das Verbot der mittelbaren Entgeltdiskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Diskriminierung aufdecken

Eine vermutete Benachteiligung muss in einem dreistufigen Verfahren geprüft werden.

  1. Zunächst muss geklärt werden, ob „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ vorliegen, die mittelbar diskriminierend wirken.
  2. Dann ist zu ermitteln, ob die betroffene Personengruppe „in besonderer Weise“ benachteiligt wird. „In besonderer Weise“ heißt weder, dass Diskriminierung beabsichtigt ist, noch dass die diskriminierende Wirkung besonders stark sein muss. Es geht schlicht um die Benachteiligung im Vergleich zum anderen biologischen Geschlecht, also im Fall der Grundschullehrerinnen immer die Männer. Geprüft wird das meistens anhand eines statistischen Vergleichs. Dafür werden zunächst Vergleichsgruppen gebildet. Eva Kocher, Stefanie Porsche und Johanna Wenckebach haben in ihrem Gutachten die Bezahlung von Lehrer_innen an Grundschulen mit anderen Schulformen verglichen. Dabei hat sie festgestellt, dass der Anteil weiblicher Lehrkräfte in den Bereichen mit geringerer Bezahlung am höchsten ist. Um dies als mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts anzugreifen, muss ermessen werden, ob der festgestellte Unterschied „erheblich“ ist.
  3. Schließlich muss geklärt werden, ob die diskriminierende Regelung sachlich gerechtfertigt, angemessen und erforderlich ist. Im AGG selbst sind keine Rechtfertigungsgründe aufgeführt. Vielmehr muss der Arbeitgeber „objektive Gründe“ darlegen. Diese sind anzunehmen, wenn die Ungleichbehandlung
  • einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dient und
  • verhältnismäßig – also geeignet, erforderlich und angemessen – ist.

Diese abstrakten Rechtsbegriffe bedeuten im Kern, zwischen dem Recht auf Gleichbehandlung und dem Zweck, den das Unternehmen verfolgt, abzuwägen. Ob die öffentlichen Finanzen ein Rechtfertigungsgrund mit Verfassungsrang sein können, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung offen gelassen (BVerfGE, 05.05.2015 – 2 BvL 17/09). Ob die Belastung der Landeshaushalte durch eine höhere Besoldung der Grundschullehrer_innen bleibt damit erst einmal ungeklärt.

Was ist gleichwertig?

Beim Recht auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit ist die EU Gender-Richtlinie in Artikel 4 präziser als das AGG: „Insbesondere, wenn zur Festlegung des Entgelts ein System beruflicher Einstufung verwendet wird, muss dieses System auf für männliche und weibliche Arbeitnehmer gemeinsamen Kriterien beruhen und so beschaffen sein, dass Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ausgeschlossen werden.“ Auf Basis dieser Festlegung hat der EuGH in mehreren Entscheidungen die Kriterien zur Prüfung gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit konkretisiert.

  1. Entgeltsysteme müssen durchschaubar, überprüfbar und für die Beschäftigten nachvollziehbar sein.
  2. Entgeltsysteme müssen „objektive“ Kriterien enthalten, die sich auf die Art der Tätigkeit beziehen und wesentliche Anforderungen abbilden. Dabei müssen auch solche Kriterien berücksichtigt werden, nach denen Arbeitnehmerinnen besonders geeignet sein können. Die als „Nasenprämien“ bekannten subjektiven Einschätzungen, die so manchen Stellenbeschreibungen zugrunde liegen, sind damit ausgeschlossen.
  3. Die Kriterien dürfen nicht diskriminieren. Denn gerade hier lauern erhebliche Diskriminierungsfallen: Das Kriterium „Flexibilität“ kann z.B. diskriminierend wirken, wenn es sich auf die flexible zeitliche Verfügbarkeit bezieht, die bei Menschen mit Familienpflichten erheblich eingeschränkt ist. Auch das Dienstalter als Kriterium kann potenziell diskriminieren, da Menschen mit Familienpflichten häufiger ihre Berufstätigkeit unterbrechen. Betroffen sind nach wie vor weit überwiegend Frauen.
  4. Die Anforderungsmerkmale müssen diskriminierungsfrei ausgelegt und angewendet werden. Bezogen auf die Tätigkeit von Lehrer_innen heißt das z.B. dass Verantwortung nicht ausschließlich als Verantwortung für die berufliche Orientierung der Schüler_innen oder einen möglichst hohen Schulabschluss interpretiert wird. 
  5. Das System darf in seiner Gesamtheit nicht diskriminieren. Die Anforderungsmerkmale müssen alle wesentlichen Charakteristika der Tätigkeiten berücksichtigten, also auch die Charakteristika pädagogischer Arbeit. Die so6ziale und pädagogische Arbeit und somit Verantwortung muss Berücksichtigung finden.

Wird bei einer rechtlichen Überprüfung (meist vor Gericht) eine mittelbare Diskriminierung beim Entgelt aufgrund des Geschlechts festgestellt, so muss die Bezahlung der Betroffenen nach oben angeglichen werden. Nach dem Rechtsgutachten bzw. nach der rechtlichen Analyse nach Kocher, Porsche, Wenckebach müssten Grundschullehrkräfte wie ihre Kolleg_innen an anderen Schulformen eingruppiert werden. Dies gilt jedoch nur so lange, bis eine neue Regelung gefunden ist, die ihrerseits natürlich nicht diskriminieren darf. Dabei müssen Übergangsfristen und Besitzstände gewahrt werden.