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Unterrichten in Indien: ein Erfahrungsbericht

Im Frühjahr 2017 hat Lehrerin Judith aus Freiburg als Freiwillige im Brückeninternat der fair childhood-Partnerorganisation MV Foundation unterrichtet. Hier berichtet sie von ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden, deutsch-indischen Unterschieden und ihren Erlebnissen in Hyderabad.

Unterrichten mit Gedichten (Foto: Eugénie Baccot)

Sitze im Flieger nach Hyderabad  auf dem Weg zu meinem Einsatzort. Über die Stiftung der GEW Fair Childhood  habe ich von den Camps erfahren, in dem ehemalige Kinderarbeiter leben. Sie werden dort versorgt und erhalten Unterricht. In einem sogenannten Bridge Camp werde ich Englisch unterrichten. Die indische Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkataranygaiya Foundation – arbeitet u.a. mit der deutschen Organisation Fair Childhood zusammen. Brigde steht für das Zwischenstadium zwischen Child Labour und den normalen Schulbesuch wieder auf-zunehmen.  Ich habe 17 Jahre an staatlichen Realschulen unterrichtet und bin seit 2 Jahren nicht mehr im Schuldienst.

Der Blick aus dem Fenster zeigt ein unendliches Meer von Lichtern. Hyderabad liegt auf der Dekkan-Hochebene in Zentralindien. Zwei Städte sind  zu einer verschmolzen, es leben dort fast 12 Millionen Menschen.

Schwieriges Ankommen

In der Ankunftshalle halte ich Ausschau nach einer Person von der Organisation MVF, die ein Schild mit  meinem Namen hochhält. Nach einiger Sucherei entdecke ich meinen Namen „Judith“. Nach einer kurzen Begrüßung, fährt er mich zu meiner Unterkunft, es ist nach 24h und es herrscht immer noch viel Verkehr. Nach gut 1,5 h sind wir da – ein ruhiges Wohnviertel. Die Hausbesitzer haben auf mich gewartet. Kurzes Willkommen, Frühstücken könnte ich in der Nähe und bis morgen. Der Sohn des Hauses zeigt mir mein Zimmer. Ich trete ein und der Anblick ist gewöhnungsbedürftig. Lauter Sperrmüllmöbel mit sich abhebender Holzverfugung, weiß übergepinseltes Braun, angeklebtes Bein auf einem

Kommodenmöbel auf dem absurderweise eine Mikrowelle steht. Das Bad ist ähnlich gewöhnungsbedürftig, sprich es könnte sauberer sein. Der Sohn kommt noch mal und ich bitte um eine Bodenmatte und zeige ihm den Zustand des Zimmers – er sagt, sie hätten erst heute Bescheid bekommen, dass ich käme. Aus Erfahrung weiß ich, Inder darf man möglichst nicht direkt auf einen Mangel ansprechen. Also nickt er nur, wackelt mit dem Kopf und kommt immerhin mit einer Bastmatte zurück. Das Bettzeug ist sauber. Es ist fast 2h morgens, die Moskitos schwirren durch den Raum, mit letzter Kraft finde ich meinen Mückenspray und sinke erschöpft auf das harte Bett. Am nächsten Tag packe ich meine Sachen. Hier bleibe ich nicht. Freundlicherweise lädt mich die Hausherrin zum Frühstück ein, da es gestern Abend so spät war. Sie hat keine Zeit hat mich im Viertel herumzuführen, um mir die Restaurants und Läden zu zeigen – ihre Tochter kommt aus den USA zu Besuch. Der Gärtner schneidet und gießt den Vorgarten, es sieht wie geleckt aus.  Eine Hausbedienstete, eine ältere Frau herrscht ihn an und wirft ihm einen Besen vor die Tür. Der Mann sagt nichts, nimmt den hingeschmissenen Besen und macht sich ans Kehren. Offensichtlich hat die Hausbedienstete einen höheren Status als er.              

Um 10 Uhr soll ich abgeholt werden, um zum Head Office der Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkatarangaiya Foundation gebracht zu werden. Ich sitze pünktlich im Wohnzimmer und denke, was mich wohl erwartet… es ist mein erstes Zusammentreffen mit der MVF. Ich lerne die 1. Lektion für alle Westler: Warten und nicht ungeduldig werden. Die indische Zeit läuft anders. Waiting, waiting. Kurz vor 11h taucht jemand auf. Wir tauschen die Namen aus und ich deute auf meinen Koffer, der mit ins Auto soll. Der Mann macht keine Anstalten den Koffer aufzunehmen und sagt etwas von Driver. Auch das habe ich vergessen: in Indien herrscht eine strenge, hierarchische Aufgabenteilung. Keinem Brahmanen kommt es in den Sinn, einen Koffer zu tragen. Das ist etwas für die unteren Kasten. Richtig. Später erzählt er mir, dass er aus der Brahmanenkaste stammt. Kaste hin oder her, mein Koffer soll mit, also greife ich ihn und trage ihn raus. Der Driver macht keine Anstalten aus dem klimatisierten Auto zu steigen, obwohl mein Abholer ihn ruft.  Nun muss der Gartenboy herhalten. Er wird dazu bestimmt meinen Koffer zu tragen. Immerhin hilft der Driver beim Einladen. Das finde ich alles sehr interessant.

Das Head Office ist in West Marredpally, Secunderabad, die Stadt, die mit Hyderabad zusammen gewachsen ist,  in einem Apartmenthaus in einer Seitenstraße. Von der Tiefgarage geht ein Aufzug nach oben – er hat ein Ziehgitter, wie man es aus französischen Spielfilmen kennt. Das Office ist richtig indisch mit vielen Blechschränken, Haufen von aufgetürmten Akten und Propellern an der Decke. Ich werde durch einen Handtuchvorhang in ein hinteres Zimmer geführt. Dort erwarten mich drei Männer von der Organisation. Ein vierter gesellt sich dazu. Wir tasten uns erstmal etwas ab – fragen uns gegenseitig nach Motivation und Arbeitsweise. MVF sorgt dafür, dass Kinder, die sich in Arbeitsverhältnissen befinden, in die Schule gehen. From work to school.  Ich frage, wie sie damit umgehen, da die Kinder auch zum Familienverdienst beitragen mit ihrer Arbeit. Dhananjay, einer der Mitarbeiter nennt das das ‚poverty argument‘ (,wo also mit der Armut argumentiert wird). Das poverty argument geht davon aus, dass die Eltern kein Interesse haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Das Gegenteil ist der Fall, sagt er. Wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, heißen sie sie mit offenen Armen willkommen selbst bei finanzieller Einschränkung. Häufig wissen die Eltern einfach nicht, wie die behördlichen Hürden zu nehmen sind;  wie die Herbeischaffung einer Geburtsurkunde, eines Einkommensnachweises oder wie die Prozedur der Anmeldung  zu bewältigen ist. Da die meisten Eltern Analphabeten sind, stellt das für sie eine große Hürde dar. Sie wissen eher wie man ein Kind zu einem Arbeitgeber bringt, als wie man es für die Schule anmeldet. Ein weiterer Grund, dass die Kinder nicht zur Schule gehen, ist die soziale Diskriminierung aufgrund des Kastenwesens. Selbst die Lehrer schauen auf die Kinder aus den unteren Kasten herab und  grenzen sie sozial aus: Sie bekommen keine Schulbank, müssen auf dem Boden sitzen usw. Dazu kommt noch die gesellschaftliche Akzeptanz,  von Kinderarbeit. Das Nicht-zur-Schule-schicken ist also einfacher und wird akzeptiert. MFV nennt es ‚social norm‘. Dennoch haben Umfragen gezeigt, dass selbst in ländlichen Gegenden mit schlechtem Bildungsangebot 98% der Eltern dafür sind, dass ihre Söhne zur Schule gehen und 89% sind für den Schulbesuch der Töchter. Wenn diese Hürde genommen wird, entwickeln die Kinder Selbstwertgefühl und fühlen sich gewertschätzt. Das sind gute Argumente, die mir einleuchten.

Kommodenmöbel auf dem absurderweise eine Mikrowelle steht. Das Bad ist ähnlich gewöhnungsbedürftig, sprich es könnte sauberer sein. Der Sohn kommt noch mal und ich bitte um eine Bodenmatte und zeige ihm den Zustand des Zimmers – er sagt, sie hätten erst heute Bescheid bekommen, dass ich käme. Aus Erfahrung weiß ich, Inder darf man möglichst nicht direkt auf einen Mangel ansprechen. Also nickt er nur, wackelt mit dem Kopf und kommt immerhin mit einer Bastmatte zurück. Das Bettzeug ist sauber. Es ist fast 2h morgens, die Moskitos schwirren durch den Raum, mit letzter Kraft finde ich meinen Mückenspray  und  sinke erschöpft auf das harte Bett. Am nächsten Tag packe ich meine Sachen. Hier bleibe ich nicht. Freundlicherweise lädt mich die Hausherrin zum Frühstück ein, da es gestern Abend so spät war. Sie hat keine Zeit hat mich im Viertel herumzuführen, um mir die Restaurants und Läden zu zeigen – ihre Tochter kommt aus den USA zu Besuch. Der Gärtner schneidet und gießt den Vorgarten, es sieht wie geleckt aus.  Eine Hausbedienstete, eine ältere Frau herrscht ihn an und wirft ihm einen Besen vor die Tür. Der Mann sagt nichts, nimmt den hingeschmissenen Besen und macht sich ans Kehren. Offensichtlich hat die Hausbedienstete einen höheren Status als er.

Zeit ist relativ

Um 10 Uhr soll ich abgeholt werden, um zum Head Office der Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkatarangaiya Foundation gebracht zu werden. Ich sitze pünktlich im Wohnzimmer und denke, was mich wohl erwartet… es ist mein erstes Zusammentreffen mit der MVF. Ich lerne die 1. Lektion für alle Westler: Warten und nicht ungeduldig werden. Die indische Zeit läuft anders. Waiting, waiting. Kurz vor 11h taucht jemand auf. Wir tauschen die Namen aus und ich deute auf meinen Koffer, der mit ins Auto soll. Der Mann macht keine Anstalten den Koffer aufzunehmen und sagt etwas von Driver. Auch das habe ich vergessen: in Indien herrscht eine strenge, hierarchische Aufgabenteilung. Keinem Brahmanen kommt es in den Sinn, einen Koffer zu tragen. Das ist etwas für die unteren Kasten. Richtig. Später erzählt er mir, dass er aus der Brahmanenkaste stammt. Kaste hin oder her, mein Koffer soll mit, also greife ich ihn und trage ihn raus. Der Driver macht keine Anstalten aus dem klimatisierten Auto zu steigen, obwohl mein Abholer ihn ruft.  Nun muss der Gartenboy herhalten. Er wird dazu bestimmt meinen Koffer zu tragen. Immerhin hilft der Driver beim Einladen. Das finde ich alles sehr interessant.

Das Head Office ist in West Marredpally, Secunderabad, die Stadt, die mit Hyderabad zusammen gewachsen ist,  in einem Apartmenthaus in einer Seitenstraße. Von der Tiefgarage geht ein Aufzug nach oben – er hat ein Ziehgitter, wie man es aus französischen Spielfilmen kennt. Das Office ist richtig indisch mit vielen Blechschränken, Haufen von aufgetürmten Akten und Propellern an der Decke. Ich werde durch einen Handtuchvorhang in ein hinteres Zimmer geführt. Dort erwarten mich drei Männer von der Organisation. Ein vierter gesellt sich dazu. Wir tasten uns erstmal etwas ab – fragen uns gegenseitig nach Motivation und Arbeitsweise. MVF sorgt dafür, dass Kinder, die sich in Arbeitsverhältnissen befinden, in die Schule gehen. From work to school.  Ich frage, wie sie damit umgehen, da die Kinder auch zum Familienverdienst beitragen mit ihrer Arbeit. Dhananjay, einer der Mitarbeiter nennt das das ‚poverty argument‘ (,wo also mit der Armut argumentiert wird). Das poverty argument geht davon aus, dass die Eltern kein Interesse haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Das Gegenteil ist der Fall, sagt er. Wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, heißen sie sie mit offenen Armen willkommen selbst bei finanzieller Einschränkung. Häufig wissen die Eltern einfach nicht, wie die behördlichen Hürden zu nehmen sind;  wie die Herbeischaffung einer Geburtsurkunde, eines Einkommensnachweises oder wie die Prozedur der Anmeldung  zu bewältigen ist. Da die meisten Eltern Analphabeten sind, stellt das für sie eine große Hürde dar. Sie wissen eher wie man ein Kind zu einem Arbeitgeber bringt, als wie man es für die Schule anmeldet. Ein weiterer Grund, dass die Kinder nicht zur Schule gehen, ist die soziale Diskriminierung aufgrund des Kastenwesens. Selbst die Lehrer schauen auf die Kinder aus den unteren Kasten herab und  grenzen sie sozial aus: Sie bekommen keine Schulbank, müssen auf dem Boden sitzen usw. Dazu kommt noch die gesellschaftliche Akzeptanz,  von Kinderarbeit. Das Nicht-zur-Schule-schicken ist also einfacher und wird akzeptiert. MFV nennt es ‚social norm‘. Dennoch haben Umfragen gezeigt, dass selbst in ländlichen Gegenden mit schlechtem Bildungsangebot 98% der Eltern dafür sind, dass ihre Söhne zur Schule gehen und 89% sind für den Schulbesuch der Töchter. Wenn diese Hürde genommen wird, entwickeln die Kinder Selbstwertgefühl und fühlen sich gewertschätzt. Das sind gute Argumente, die mir einleuchten.

Im Unterricht gibt es immer viel Bewegung (Foto: Judith Kloers-Kempff)

Als sich die Stimmung etwas gelockert hat, frage ich nach der Bedeutung ihrer Namen. In Indien ist alles mit den Göttern verbunden. Kein Geschäft, kein Büro, kein Betrieb, kein Wohnhaus ohne Hausaltar. Bhaskar heißt Sonne und ist ein anderer Name für Gott Krishna; Dhananjay ein anderer Name für Arjun – der berühmte Krieger aus der Bhagavagita dessen Wagenlenker Krishna war. Jay bedeutet victory – Sieg. Arvind heißt auch Aurobindo und bedeutet Lotus – und deutet auf den göttlichen Lotusthron hin. Ich erzähle von meiner nächtlichen Unterkunft und ernte Verständnis. Wir kommen überein, dass Arvind mich bei der Suche nach einer geeigneten Unterkunft unterstützt. Er und zwei weitere Männer essen mit mir zu Mittag in einem vegetarischen Restaurant – dabei reden sie in ihrer Landessprache Telugu. Ich verstehe kein Wort. Sie essen landesüblich mit den Fingern. Habe heute viel Landeskunde gehabt.

Zurück zu Lektion 1: Geduld, Geduld.

Nach erfolgloser Suche nach einer geeigneten Unterkunft steige ich in dem Hotel ab, wo wir zu Mittag gegessen haben: Belsons Taj Mahal Hotel. Ein großartiger Name. Der Zustand der Zimmer hält das Versprechen nicht, ist aber Klassen besser als meine 1. Unterkunft. Am nächsten Tag soll mich ein Mitarbeiter zu dem Bridge Camp bringen. Wieder sitze ich um 10h in der Lobby mit lauter anderen Männern. Aber niemand ist da, um mich abzuholen. Um 10.30h kommt ein Mann, der kaum Englisch spricht und erstmal mit seinem Handy telefoniert. Das tun in Indien alle, zu jeder Zeit – sei es beim Essen, in einer Besprechung, im Unterricht, beim Motorrad fahren. Bis es losgeht, hat er 3 Telefonate geführt und ich stehe daneben. Wie war die Lektion: Geduld! Geduld! Endlich verlassen wir das Hotel und er geht zur nächsten Kreuzung an einer Hauptverkehrsstraße. Wir stehen mitten im brausenden Verkehr – sobald ein Inder um die Ecke fährt, hupt er, bremsen ist nicht vorgesehen. Bei Stau hupt er noch mehr, da es nicht weitergeht. Irrsinnig viele Fahrzeuge brausen um die Kurve, hupend. Ich verstehe seine Vorgehensweise nicht – wir hätten direkt vor dem Hotel eine Riksha nehmen können. Aber die indische Logik erschließt sich einem Europäer nicht auf den ersten Blick. Schließlich gelingt es ihm, eine Riksha anzuhalten und wir fahren hupend zum Bahnhof. Inzwischen ist es 11.30h und wir sitzen seit 45 Minuten am Bahnhof, die Hitze nimmt zu. Meine Frage, wann denn der Zug fährt, beantwortet er mit irgendeiner Zeitangabe.

Zurück zu Lektion 1: Geduld, Geduld. Als wir nach der Zug- und einer weiteren Kleintransporterfahrt ins Camp kommen, sind die Kinder in ihren Klassenzimmern und wir gehen hoch zum Office. Dort sitzen fünf Männer, sie sind für irgendetwas verantwortlich, ich erfahre aber nicht, für was. Arvind ist extra wegen mir vom Head Office hergekommen. Die Unterkunfts- und Budgetfrage scheint schwierig. Jetzt diskutieren vier Männer über das Budget. Dann schreiben sie gemeinsam eine Mail mit vielen Unterbrechungen, weiteren Gesprächen und Handytelefonaten. Zwischendurch kommt eine der Küchenfrauen mit einer großen Blechkanne und schenkt jedem einen kleinen Blechbecher Chai, den indischen Tee, ein. Leider kann ich mich mit dem Buchhalter, der nicht an der Budget-Diskussion beteiligt ist, nicht unterhalten, er spricht kaum Englisch oder ich habe Schwierigkeit ihn zu verstehen. Ich stehe auf und blicke durch das vergitterte Fenster auf einen Garten mit einer Wäscheleine und viel Müll. Müll sieht man in Indien viel. Gleichzeitig wird dauernd gefegt. Einer dieser indischen Sonderbarkeiten. Durch die ausgiebige Besprechung meines Budgets startet die angekündigte Führung spät.

Endlich an der Schule

Die Kinder haben Mittagspause. Im Camp sind nur Mädchen. Natürlich erspähen sie mich sofort. Sie sind nicht scheu, eher neugierig. Viele wollen mir die Hand geben. Eine Traube von Mädchen steht in kurzer Zeit um mich herum. Eine ganz Mutige fragt: How are you? Sie und ihre Freundinnen kichern. Der Camp Swamy scheucht sie zum Essen. Die Küchenfrauen haben einen Riesenblechtopf mit Reis gekocht und einen kleineren Topf mit Gemüse. Sie hocken hinter den Töpfen auf dem Boden. Jedes Kind hat einen Blechteller, mit dem sie sich anstellen. Sie bekommen eine große Kelle mit Reis und eine kleine mit Gemüse. Zum Essen setzen sie sich auf den Boden in einer überdachten Halle. Für die Erwachsenen, den Staff, gibt es einen extra Topf Reis mit zwei Blecheimern voll Gemüse und curd – Joghurt. Das südindische Essen ist stark gewürzt – very spicy. Alle sind besorgt, ob ich genug zu essen habe – hauptsächlich brauche ich einen Löffel. Alle anderen essen mit den Fingern. Als die Küchenfrauen meinen außergewöhnlichen Wunsch vernehmen, lächeln sie und wackeln mit dem Kopf. Eine von ihnen verschwindet in der Küche und kommt nach einiger (Warte-)Zeit mit einem kleinen verbogenen Blechlöffel wieder. Ich bedanke mich, sie wackelt wieder mit dem Kopf und ich kann essen. Es schmeckt gut, halt sehr scharf.

Nach der Mittagspause sitzen ca. 15 Mädchen im Kreis auf dem Boden der Vielzweckhalle und Venkat, einer der Mitarbeiter, hat eine Rahmentrommel in der Hand. Er übt mit den Mädchen Gesang und Tanz ein. Sie stehen auf und Venkat trommelt laut dazu. Die Mädchen führen einen Kriegstanz auf – gegen Ausbeutung und Missbrauch. Sie vollführen ausdrucksstarke Gesten und singen rhythmisch dazu – sehr beeindruckend. Den Mädchen macht es offensichtlich Freude. Ich bin begeistert und filme es mit meinem kleinen Fotoapparat. Der Tanz soll bei einer Veranstaltung aufgeführt werden. Das ist mitreißende Propaganda.

Das bin ich nicht gewöhnt, dass sich die Schüler bei mir bedanken. Das wäre ein Versuch an deutschen Schulen wert…

Nach endlosen Autofahrten durch den Großstadtverkehr haben wir schließlich eine schöne Unterkunft gefunden. Ich merke, als Westlerin in einem Entwicklungsland wie Indien, brauche ich einen Ruhepunkt mit minimalen westlichem Komfort und Ruhe.

Endlich beginnt der Unterricht. In Indien ist alles fließend – der Verkehr, die Zeiten… Als Deutsche bin ich an strenge Struktur gewöhnt und muss mich erstmal umstellen. Ich habe mit Bhaskar eine Unterrichtszeit vereinbart. Die Klassenlehrerinnen fließen einfach mit. Kein Stundenplaner muss Vertretungsstunden einplanen. Sie nutzen die freie Zeit zum Telefonieren, die Hefte der Kinder durchzusehen oder sich die Haare zu waschen. Die Klassenlehrer-innen leben mit den Mädchen im Camp. Sie schlafen gemeinsam in ihrem ‚Klassenzimmer‘.

Wir beginnen mit der Begrüßung: “Good morning girls from B-group.” “Good morning, teacher”, schallt es mir entgegen.”Thank you teacher”. Das bin ich nicht gewöhnt, dass sich die Schüler bei mir bedanken. Das wäre ein Versuch an deutschen Schulen wert…

Erwartungsvoll blicken mir die Mädchen entgegen. Wir beginnen mit der persönlichen Begrüßung.“Hello, my name is… what‘s your name?“ Die Kinder sprechen sofort alles laut nach - im Chor. Nun sollen sie sich reihum vorstellen und ihre Nachbarin nach dem Namen fragen. Das bereitet einigen Schwierigkeiten. Sie werden sofort von anderen Mädchen, die es verstanden haben, unterstützt und auch übertönt. „Hello, my name is …What’s your name?“ Schnell wird deutlich, dass die Kinder sehr gut repetieren aber mit selbstständiger Arbeit Probleme haben. Mein Ziel ist, dass die Mädchen Sätze bilden können. Dazu braucht es erstmal ein Subjekt. Wir beginnen mit den Personalpronomen. Das klappt prima mit Tafelanschrieb und auf sich und andere deuten und jeweils wiederholen. Einzelne können selbstständig die Reihe I, you, he, she, it, we, you und they aufsagen, andere schaffen es besser im Chor. Weiter geht’s mit den Possessivpronomen, mit an die Tafel gezeichneten Strichmännchen und viel Körpersprache. Die Mädchen sind so aufmerksam. Leuchtende Augen blicken mir entgegen. Nach dem Übertragen in ihr Heft kommen sie zu mir und ich muss ihre Arbeit abzeichnen. „Sign, Madam“, sagen sie. Es ist wie bei uns, wenn die Kinder aus der Grundschule in die Realschule kommen und nach jedem schriftlichen Eintrag eine Traube Kinder ums Lehrerpult steht. Hier gibt es kein Pult und auch keine Schulbänke. Alle sitzen auf dem Boden. Zum Schreiben haben sie ein Klemmbrett aus Holz. Ihre persönlichen Sachen sind in einer Blechkiste untergebracht, die im Klassenzimmer an der Wand stehen. Der Raum ist gleichzeitig ihr Schlafzimmer. In einer Ecke sind die Matten und Decken gestapelt, die abends aus- und morgens wieder eingerollt werden. Für Indien nichts Ungewöhnliches.

Tanzen geht gut, die Uhrzeit weniger

Am Wochenende waren die Kinder mit ihren Betreuern im Zoo. Am Montag zählen wir Tiere auf, deren Namen sie auf Englisch kennen. Dazu passt der Nursery rhyme „The zebra in the zoo“ - vorsprechen, nachsprechen, mit viel Gestik und Lauten. Das macht ihnen Spaß. Alles Rhythmische begeistert die Mädchen. Am Ende des Unterrichts wollen sie unbedingt, dass ich mit ihnen tanze. Sie singen, stampfen mit den Füßen und bewegen sich graziös. Wir enden mit einem kräftigen ‚Hoh‘.

Als ich mit dem Englischunterricht in einer zweiten Gruppe beginne, wollen sie auch sofort tanzen. Es hat sich schnell herumgesprochen. Nun muss ich die Begeisterung ein wenig bändigen und auf den Sprachunterricht umleiten. Als ‚warm-up‘ sollen sie ein‘ spider web‘ ausfüllen, deren letzter Buchstabe ein R ist. Wörter wie water, sister usw. Vorher habe ich eine der Lehrerinnen gebeten, die Wörter in Telugu zu übersetzen. Auch hier die Schwierigkeit, selber etwas herauszufinden. Nach einer Starthilfe beginnen die Mädchen die Wörter einzusetzen. Zwei sehr pfiffige Schülerinnen finden von sich aus noch mehr Wörter, die auf R enden. Zur kognitiven Entlastung gibt es jetzt einen Poem: „Fishes swim in water clear…“ Wir stehen auf und sprechen im Chor und führen die entsprechenden Bewegungen aus. Da sind wieder alle dabei.

Für den nächsten Unterrichtstag habe ich meine Pappuhr aus dem Unterricht in der 5. Klasse mitgebracht und kleine Arbeitsblätter. „What’s the time?“ Ich führe full, half and quarters ein. Full hour = o’clock ist zu schaffen; bei den Bezeichnungen mit half past und 20 to… kommen die Kinder nicht mehr mit. A quarter to kann ich vergessen. Sie nennen bei half past 6 die digitale Zeit 6:30. Ich versuche es mit den Campzeiten: assembly time, wo alle Mädchen morgens draußen im Hof auf dem Sandboden sitzen. Zuerst wird ein prayer/Gebet gesprochen und anschließend lesen ihnen die Lehrerinnen aus der Zeitung vor. Offensichtlich lustige Begebenheiten, denn sie lachen viel dabei. Das animiert die Mädchen zum Zeitung lesen. Sie lesen gerne in der Zeitung.

Am nächsten Tag mache ich noch eine Uhrzeiten-Wiederholungsstunde. In Deutschland habe ich im Englischunterricht sehr viel Partnerarbeit gemacht. Dies ist den indischen Schülerinnen nicht vertraut. Nach einer anstrengenden Stunde, in der es nur 2-3 Mädchen annähernd verstanden haben, lasse ich seufzend die Pappuhr in meinem Rucksack verschwinden. Zu anstrengend mit zu wenig Zuwachs an Ausdruck. Wir wechseln zu der kleinen Geschichte in ihrem Englischbuch „A thirsty crow“.  Die Vorentlastung erfolgt über Tafelbild und Pantomime – jede hat die Geschichte vor sich und ich lese vor. Das mögen sie sehr. Dann lesen wir reihum. Auch da haben einige Probleme dem Text zu folgen. Sofort helfen ihnen die Mitschülerinnen. Was man mitberücksichtigen muss, ist, dass nicht alle Mädchen in einer Gruppe gleich lang zur Schule gegangen sind. Einige nur 2, andere 4 und mehr Jahre. Berücksichtigen sollte man auch die normale Abstufung bezüglich Interesse, Aufnahme- und Merkfähigkeit, Vorwissen usw. die man in jeder Klasse hat – auch in Deutschland, wo das Schulsystem klar strukturiert ist. Brigde Camp – nicht vergessen, es geht darum, eine Brücke zu bauen. Die Kinder sind regelmäßigen Schulbesuch nicht gewöhnt. Umso mehr genießen sie das Privileg Unterricht zu haben. Viele legen sich schwer ins Zeug. Auch wollen sie, dass ich mit ihnen auf dem Boden sitze. „Sit, Madam, sit“. Sie rutschen ganz eng an mich heran, berühren sanft meine Haut, begutachten meine Haare und Nägel. Alle wollen, dass ich ihre Hefte anschaue und signiere. „Sign, Madam, sign.“ Meine Absicht, dass die Schülerinnen ihre Arbeit selbstständig mit einem Arbeitsblatt oder dem Tafelanschrieb vergleichen, fällt dieser ungewohnten, fast zärtlichen Nähe zum Opfer…Sie wollen direkte Zuwendung und Bestätigung.

Einmal habe ich einen kleinen Test vorbereitet, um zu sehen, ob sie die eingeführten Objektpronomen benennen können. Der „Test“ entpuppte sich als ‘teacher umringt von eifrigen Mädchen‘, die alle gespannt auf meine Antwort warteten „Read teacher, read.“ So war das eigentlich nicht gedacht. Aber sie haben aufgepasst. Das freut doch jeden Lehrer, oder?

Abenteuer Tempelfest

Am Montag, den 20. Februar, komme ich ins Camp. Unterricht ist kaum möglich. Ein Tempelfest ist im Gange. Dazu schallt der Gesang über scheppernde Lautsprecher vom Berg herunter. Da das Klassenzimmer der B-group auch als Aufenthaltsraum von vielen andere benutzt wird – zum Kämmen, Telefonieren, Baby wickeln  usw., – sitzen an dem Morgen dort zwei mir unbekannte Frauen und bieten mir an, mit mir auf den Berg zum Tempelfest zu gehen. Wie, einfach so – statt Unterricht?. „Yes, Madam, no problem, madam“ . Die Klassenlehrerin, die auch da ist, wackelt freundlich mit dem Kopf und signalisiert mir, mitzugehen. Das typische indische Umsorgen beginnt. Sie machen sich Sorgen, ob ich in der Mittagshitze den Aufstieg schaffe. Eine wickelt mir ein feuchtes Tuch um den Kopf, eine andere versorgt mich mit Wasser. Die Dritte bringt mir Kokosnusswasser zu trinken, weil das kühlt. Es wird wieder viel geredet, bis er losgeht, ist es immer heißer geworden – in der Sonne gut und gerne an die 40°. Ich komme mir wie eine Oma vor, die man  auf einen beschwerlichen Ausflug mitnimmt. Beim Überqueren  der Straße werde ich an der Hand genommen, beim Anstieg über die großen Steinstufen, rufen sie ständig: “Careful steps, are you o.k.?“

Ehrlich gesagt, soviel Fürsorge fängt an, mich anzustrengen. Als wir oben ankommen, ist die Zeremonie in vollem Gange. Gefeiert wird die Vermählung Vishnus mit zwei Göttinnen. Dazu gibt es einen blumengeschmückten Altar. Bereits verheiratete Paare können daran teilnehmen und einen neuen Segen für ihre Ehe erhalten. Ein schöner Brauch. Zwei Priester mit nacktem Oberkörper zitieren heilige Mantren und segnen fortlaufend die anwesenden Paare. Die ‚Gemeinde‘ sitzt auf Plastikstühlen um das Podium herum. Wie überall in Indien sind Babies, Kinder und Handys dabei. Es wird geredet, telefoniert und viele Kinder laufen herum. Ich merke, dass ich pikiert bin. Wie kann man so viel Unruhe machen, während eine heilige Zeremonie vollzogen wird. In Indien – no problem. Meine Begleiterinnen wollen ständig von mir wissen, ob ich o.k. bin. Soll Bescheid sagen, wenn ich  gehen möchte. Ich muss ja einen ziemlich hinfälligen Eindruck machen.

...dann bekommt man die gesegnete Kokusnuss zurück.

Zum Ende der Vishnufeier geht ein Priester zwischen den anwesenden Zuschauern herum und man gibt ihm Geld, wenn man einen Segen für einen Angehörigen will. Da an diesem Tag der 92. Geburtstag meiner Mutter ist, erbitte ich einen Segen für sie. Der Priester gibt einen Segen für meine Mutter für Glück und Gesundheit. Es passt zwar nicht wirklich, aber es geht ja um die Geste und die wohlmeinende Energie. Es erfüllt mich mit Freude, ihr auf diese Weise etwas zu schenken. Als wir aufbrechen,  gelangen wir zu einem kleinen Seitentempel, wo weitere Priester Segen erteilen. Wir stellen uns an. Man reicht dem Priester unter einer Türöffnung eine Kokosnuss,  die er im Inneren des heiligen Raumes aufschlägt, er besprenkelt und bespricht sie und legt Blumen dazu – dann bekommt man die gesegnete Kokusnuss zurück. Ich mag solche Zeremonien und trage glücklich meine Gabe nach unten zurück ins Camp. Dort erwarten mich neugierige Gesichter. Ich lege meine Nuss im  ‚Gemeinschaftszimmer‘ ab und gehe zu einer weiteren Gruppe, der C-group. Eigentlich gehört diese Gruppe nicht zu meinen ‚Klassen‘, aber die Mädchen fragen mich jeden Tag, „Madam, come C-group?“ Da ich sie so oft vertröstet habe, muss ich mein Versprechen, auch zu ihnen zu kommen, irgendwann einlösen. Aufgeweicht vom Tempelbesuch und dem Auf- und Abstieg in der Mittagshitze, ist mein Zeitplan dahingeschmolzen – today I come C-group – after Lunch break.

Für die C-group habe ich mir einen amerikanischen nonsense-Kinder-Reim vorbehalten. Den habe ich in Freiburg, meinem Heimatort, bei einem Tanztheaterstück ‚Der Stamm‘ mit den Frauen aus Jerusalem kennengelernt. „From here to there, from there to here, funny things are everywhere. Blue fish, red fish, black fish, blue fish…“  mit ausladenden Bewegungen, Grimassen und deuten auf die Mädchen, die blau, rot oder dunkel gekleidet sind, sprechen wir im Chor den Kinderreim. „Oma Judith“ kommt wieder in Fahrt und wir haben viel Spaß.

Tage später während der Mittagspause kommen die Mädchen aus der C-group zu mir und sagen den Reim auf – dabei strahlen sie aus ihren braunen Augen. Das versöhnt mich für die viele Lehrerarbeit, von der man, ich nicht weiß, ob sie bei den Schülern angekommen ist oder behalten wurde.

Am nächsten Tag geht es mit zwei Mitarbeitern von MFV auf eine Fahrt auf die Dörfer im Kurnool District. Das ist ein anderes Einsatzgebiet von MVF und soll ein andermal erzählt werden.

Freiburg, April 2017