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„Inklusion andersherum“

In der Kletter-AG der Edith-Stein-Schule im hessischen Hochheim kraxeln Jugendliche mit Behinderung hoch hinauf. Auch Schülerinnen und Schüler ohne Handicap sind willkommen.

Die 19-jährige Marie sitzt im Rollstuhl und nimmt an der Kletter-AG der Edith-Stein-Schule im hessischen Hochheim teil. Foto: Kathrin Hedtke

Mit einer doppelten Acht knotet Marie das lila Seil fest, greift nach den bunten Griffen an der Kletterwand – und zieht sich aus ihrem Rollstuhl hoch. Vorsichtig hebt die 19-Jährige ihren Fuß, findet keinen Tritt, rutscht ab. Ihre Lehrerin Kirsten Kaib hilft etwas nach, setzt den Fuß auf einen grünen Kletterstein. Stück für Stück hangelt sich Marie nach oben. Ihre Schulkameradin Nadia sichert sie mit dem Seil. Zwei, drei Meter zieht sich das Mädchen die Wand hoch. „Wow“, sagt Kaib in der Kletterhalle in Mainz. „Für Marie ist das irre.“ Doch die Schülerin zeigt zur Holzdecke. Da will sie hin. „Unbedingt“, sagt Marie. Sie klatscht in die Hände, lacht. „Schneller. Höher. Weiter“, ruft sie.

Danach ist Nadia dran. Der 20-Jährigen war am Anfang etwas mulmig zumute. Das ist vorbei. Jetzt findet sie Klettern „cool“ und kraxelt – während Marie sichert – 13 Meter hoch bis zur Decke. Dass das Mädchen mit den schwarzen Glitzerohrringen fast blind ist, würde niemand vermuten. Die inklusive Kletter-AG der Edith-Stein-Schule in Hochheim steht allen Jugendlichen offen, mit und ohne Behinderung. Lehrerin Kaib ist überzeugt, dass diese Sportart allen guttut. Schülerinnen und Schüler lernten die eigenen Grenzen kennen – und diese zu überwinden. „Die Ziele definiert jeder selbst“, sagt die 48-Jährige. Einmal machte sogar ein Junge mit, der keine Beine hat, dafür aber enorm viel Kraft in den Armen. Damit zog er sich die Kletterwand hoch. Für alle gilt: „Sie üben sich in Kraft, Ausdauer und Technik“, betont Kaib. Ein weiterer Vorteil: Die Jugendlichen arbeiten im Team, sichern sich gegenseitig mit dem Seil. Dadurch lernten sie, Verantwortung zu übernehmen und anderen zu vertrauen.

Bei der Kletter-AG machen in diesem Schuljahr 14 Schülerinnen und Schüler mit, darunter zwei ohne Behinderung. Das gehört zum Konzept der Schule. „Inklusion andersherum“, nennt es Schulleiter Matthias Stumpf. Diese Idee wird an der privaten Berufsschule* seit rund 30 Jahren gelebt. „Da hat noch kein Mensch von Inklusion gesprochen“, sagt Stumpf. Die Schule hat einen Förderschwerpunkt auf körperlicher und motorischer Entwicklung, doch in jeder Klasse sitzen auch einige Schülerinnen und Schüler ohne Handicap. Etwa 20 Prozent sind es insgesamt.

„Einfach mal aus dem Rolli raus und an der Wand hängen. Das ist Freiheit.“ (Marie, 19)

Die Jugendlichen ohne Behinderung wählten die Schule oft aus pragmatischen Gründen, berichtet Kaib. Weil die Cousine hier einen guten Abschluss gemacht habe. Oder weil die Schule so nah sei. Viele kämen auch, weil sie auf der Regelschule gescheitert seien – aus welchen Gründen auch immer. Fest steht: „Alle profitieren davon“, sagt die Pädagogin. Ein Vorteil sei, dass in jeder Klasse nur acht bis zwölf Jugendliche sind. Dadurch würden sie als Person stärker wahrgenommen. Und der Horizont der Mädchen und Jungen ohne Behinderung erweitere sich. „Sie erleben, dass die Welt viel größer und bunter ist“, meint die Deutsch-, Politik- und Sportlehrerin. Schnell spiele keine Rolle mehr, wer behindert sei und wer nicht. Freundschaften entstünden querbeet.

Die Schule achtet jedoch darauf, dass nicht zu viele Jugendliche ohne Behinderung in einer Klasse sitzen. Grund sei die Frage: „Wer setzt die Norm in so einer Schulklasse?“ Normalerweise die Kinder ohne Behinderung. In dieser Schule sei es andersherum, so Kaib. „Deshalb gibt es viele Normen.“ Nachmittags bietet die Schule viele freiwillige AGs an, darunter Kanufahren und Rollstuhlhockey. Für die Klettergruppe müssen die Lehrkräfte zahlreiche Fortbildungen absolvieren. Auch Kosten und Aufwand sind hoch. Doch Kaib ist überzeugt: „Das ist es wert.“ Nach einer halben Stunde hat Arno rote Wangen, vor Anstrengung. Und vor Freude. Bis ganz oben hat er es geschafft. Wie er sich fühlt? „Stolz“, sagt der 16-Jährige und strahlt. Für Marie hat das Klettern noch eine andere Bedeutung: „Einfach mal aus dem Rolli raus und an der Wand hängen“, sagt die 19-Jährige. „Das ist Freiheit.“