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"Die AKP-Regierung betreibt eine Hexenjagd"

Massenentlassung von Lehrkräften, politische Verfolgung von Kritikern: So scheint der Alltag in der Türkei auszusehen. Sakine Yilmaz, ehemalige Generalsekretärin von Eğitim-Sen, bestätigt den Eindruck im Interview.

Foto: Canan Topcu

E&W: Frau Yılmaz, Sie leben seit August in Deutschland und haben Asyl beantragt. Warum?

Sakine Yılmaz: Eines vorweg: Ich wäre viel lieber in meinem Land als hier. Ich habe die Türkei verlassen, um mich vor Repressalien zu schützen und nicht im Gefängnis zu landen. Am 8. April erfuhr ich, dass ich wegen Teilnahme an einer Kundgebung zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt worden bin. Ich wusste, was mir bevorsteht. Ich war ja schon mehrmals im Gefängnis. Daher bin ich noch am selben Tag untergetaucht; bis ich das Land verlassen konnte, dauerte es noch ein paar Monate, durch den Putschversuch am 15. Juli verzögerten sich die Pläne. Mit mir zusammen sind inzwischen rund 290 Mitglieder der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen im Exil.

 

"Ich bin nur eine von vielen, der unterstellt wird, eine Terrororganisation zu unterstützen. Die AKP-Regierung betreibt eine Hexenjagd gegen alle ihre Kritiker".

 

E&W: Warum sind Sie verurteilt worden?

Yılmaz: Ich bin nur eine von vielen, der unterstellt wird, eine Terrororganisation zu unterstützen. Die AKP-Regierung (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) betreibt eine Hexenjagd gegen alle ihre Kritiker. Demokraten, Sozialisten, Laizisten und Kurden – allen, die sich für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts engagieren, wird das Leben sehr, sehr schwer gemacht. Die Menschen werden schikaniert und mit allen Mitteln daran gehindert, ihre Stimme gegen die Machenschaften von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu erheben. Wer sich für den Frieden mit den Kurden einsetzt, gilt als Anhänger der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), als Unterstützer einer terroristischen Organisation und Staatsfeind.

E&W: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Türkei ein?

Yılmaz: Ich habe kein Vertrauen mehr in den türkischen Staat. Inzwischen ist dort alles möglich. Auch die Verhaftung von demokratisch gewählten Politikern wie von kurdischen Bürgermeistern, Parlamentsabgeordneten und nicht zuletzt der Vorsitzenden der kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker). Damit schwindet meine Hoffnung, in die Türkei zurückkehren zu können. Offen gestanden sehe ich nur noch schwarz. Erdoğan zettelt einen Bürgerkrieg an und steuert Schritt für Schritt in Richtung Faschismus.

E&W: Überrascht Sie das?

Yılmaz: Nein, es war abzusehen. Alle Repressalien, die dem gescheiterten Putsch folgten, waren lange geplant. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus und der Aufarbeitung des Putschversuches werden diese nun umgesetzt.

E&W: Warum vermuten Sie das?

Yılmaz: Das lässt sich anhand von Fakten schnell rekonstruieren. Meine Gewerkschaft hatte für den 29. Dezember 2015 zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Wir wollten auf unsere Forderung aufmerksam machen, dass die türkische Regierung den Friedensprozess mit den Kurden fortsetzen solle. Das Ergebnis war, dass gegen 11 000 Beamtinnen und Beamte im Schuldienst*, die an dem Streik teilnahmen und Mitglieder unserer Gewerkschaft sind, ermittelt wurde. Unter den rund 70 000 Lehrerinnen und Lehrern, die der Staat nach dem Putschversuch suspendierte, sind etwa 13 000 Eğitim-Sen-Mitglieder – darunter auch die 11 000 Lehrkräfte, die sich am Streik beteiligt hatten. Für ihre Suspendierungen suchte die AKP-Regierung nach einer Rechtfertigung. Was auffällt: Betroffen ist das Personal aus dem Osten des Landes, also aus den kurdischen Gebieten.

E&W: Gibt es genaue Zahlen?

Yılmaz: Derzeit dürfen 11 275 Lehrkräfte nicht unterrichten, davon sind 9 400 Eğitim-Sen-Mitglieder; rund 800 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind ohne jegliche Untersuchungsverfahren entlassen worden. Zu ihnen gehört übrigens auch mein Mann. Aus der Gewerkschaftszentrale habe ich erfahren, dass in den vergangenen Wochen mehr als 5 000 Menschen ihre Mitgliedschaft gekündigt haben – vermutlich aus Angst vor Repressalien.

E&W: Wenn so viele Lehrende aus den Schulen geschasst worden sind, wie kann dennoch Unterricht stattfinden?

Yılmaz: Es gibt rund 350 000 Lehrkräfte, die keine Stellen bekommen haben, ein Teil wird nunmehr als Honorarkräfte eingesetzt. Der Schulbetrieb läuft also weiter, wie gut der Unterricht ist, ist eine andere Frage.

Zur Person

Sakine Yılmaz war von 2011 bis 2014 Frauensekretärin bei Eğitim-Sen, danach bis zu ihrer Flucht nach Deutschland im August 2016 Generalsekretärin. Zuvor arbeitete sie als Lehrerin in Izmir und Adiyaman. Die 39-jährige Kurdin engagierte sich vor allem für eine bessere Bildung der Mädchen und muttersprachlichen Unterricht kurdischer Schülerinnen und Schüler.

Das Interview führte Canan Topcu.