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Demokratiebildung

Demokratie unter Druck

Die soziale Ungerechtigkeit macht politische Gleichheit zur Illusion. Das gefährdet zunehmend die Demokratie.

Durch die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die anhaltende Inflation hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft. (Foto: Pixabay / CC0)

In einer repräsentativen Demokratie wie der der Bundesrepublik sollen sich alle Bevölkerungsschichten gleichberechtigt und gleichermaßen an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen. Aus drei Gründen stimmt die gesellschaftliche Wirklichkeit mit der staatsbürgerkundlichen Idealvorstellung kaum noch überein, gefährdet die fortschreitende sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft vielmehr die Demokratie: Erstens beteiligen sich arme Menschen immer weniger an Wahlen, die für das parlamentarische Repräsentativsystem essenziell und sein niedrigschwelligstes politisches Partizipationsangebot sind.

Zweitens verlieren manche Angehörige der (unteren) Mittelschicht, die armutsbedroht sind oder besonders in Krisensituationen große Angst vor dem sozialen Abstieg bzw. Absturz haben, das Vertrauen in das bestehende politische und Parteiensystem, was den Aufstieg eher ganz rechter, rechtspopulistischer oder rechtsextremer Organisationen begünstigt, die lautstark nach einem Systemwechsel rufen.

Schließlich konzentrieren sich drittens das Kapital und der Medienbesitz immer stärker bei wenigen Hochvermögenden und hyperreichen Familien, deren Machtgewinn es ihnen ermöglicht, Entscheidungen staatlicher Organe in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Politisch ins Abseits gedrängt

Vor allem bei Kommunal- und Landtagswahlen verzichten oft über die Hälfte der Wahlberechtigten auf die Abgabe ihrer Stimme. Dass die Wahlbeteiligung in einzelnen Wohnquartieren äußerst unterschiedlich ausfällt, liegt nicht zuletzt an der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich, die mit einem Zerfall der Sozialräume einhergeht. Wie es scheint, ist Wahlabstinenz häufig die politische Konsequenz einer prekären Existenz.

Arme werden nicht bloß ökonomisch benachteiligt und sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Sie unterliegen in unserer Gesellschaft einer dreifachen Ausgrenzung: Ökonomisch bedingt mangelt es ihnen häufig an den langlebigen Konsumgütern und personenbezogenen Dienstleistungen, die für materiell Bessergestellte als normal gelten; ihre sozialen Beziehungen leiden unter den in der Mehrheitsbevölkerung verbreiteten Ressentiments gegenüber „Drückebergern“, „Faulenzern“ und „Sozialschmarotzern“; trotz ihrer großen Zahl bleibt der Einfluss auf wichtige Entscheidungen minimal, politisch können sie ihre Interessen daher nicht durchsetzen.

Nährboden für rechtspopulistische Ideologien

Mit den „Agenda“-Reformen und den Hartz-Gesetzen vor gut 20 Jahren wurden Erwerbslose und Geringverdienende materiell schlechtergestellt, sozial entrechtet und politisch entmündigt. Seitdem hat die Teilhabe dieser Gruppe an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen einen historischen Tiefpunkt erreicht. Das ist hauptsächlich auf die neoliberale Reformpolitik bzw. deren unsoziale Folgen zurückzuführen.

Durch die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die anhaltende Inflation hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft. Daraus resultiert eine größere politische Zerrissenheit: Das parlamentarisch-demokratische Repräsentativsystem befindet sich in einer Krise und das wegen seiner Stabilität gerühmte Modell der „Volksparteien“ franst aus. Teile der unteren Mittelschicht werden für die rechtspopulistische Demagogie (der AfD) ebenso anfälliger wie für rassistische bzw. nationalistische Ideologien, die ihnen zwar Sündenböcke für alle möglichen Fehlentwicklungen liefern, sie aber die wahren Verursacher der gesellschaftlichen Spaltung nicht erkennen lassen.

Existenzsorgen und Angst vor einem sozialen Absturz bzw. einem drastischen Statusverlust, die in ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Umbruchphasen viele Mittelschichtangehörige ergreift, begünstigen Entsolidarisierungs-, Entpolitisierungs- und Entdemokratisierungsprozesse. Die sozioökonomische Polarisierung bildet einen idealen Nährboden für rechtspopulistische Ideologien, Bestrebungen und Organisationen. Je härter die Konkurrenz auf dem Arbeits- und auf dem Wohnungsmarkt wird, umso leichter lässt sich ethnische Differenz politisch aufladen. Das nutzt Parteien wie der AfD, denen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, Geflüchtete und Muslime als Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit der Ungleichheitsdynamik dienen. Solche politischen Kräfte profitieren von der zunehmenden Verteilungsschieflage, die ihre demagogische Propaganda als Ergebnis der Machenschaften einer „korrupten Elite“ und einer „Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“ deutet.

Kein Konzept gegen die Spaltung der Gesellschaft

Dass die AfD in Meinungsumfragen derzeit einen Höhenflug erlebt, obwohl ihre Radikalisierung unübersehbar ist und selbst der Verfassungsschutz sie in Teilen als rechtsextreme Partei einstuft, verwundert wenig: Die von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gebildete Ampel-Koalition besitzt trotz Erhöhung des Mindestlohns und Einführung des Bürgergeldes kein tragfähiges Konzept, um die Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten. Sie versagt im Hinblick auf eine großzügige Kindergrundsicherung und eine Umverteilung von oben nach unten. Eine überzeugende Alternative bietet weder die Union, deren Führung zwischen demokratischer Opposition und rechter Demagogie schwankt, noch die Linkspartei, deren Parteiführung mit der Bundestagsfraktion um den Kurs ringt, was die Mitgliedschaft tief verunsichert.

Extreme sozioökonomische Ungleichheit führt die politische Gleichheit – Grundlage und Inbegriff der westlichen Demokratien – ad absurdum. Von einer angemessenen politischen Repräsentation der Armen kann im heutigen Finanzmarktkapitalismus nicht die Rede sein, wohingegen die Interessen der Reichen und Hyperreichen, bedingt durch Lobbying und andere Möglichkeiten der Einflussnahme (zum Beispiel verdeckte Parteispenden und Bestechung von Amtsträgern), stark überrepräsentiert sind. Gleichzeitig fürchtet die Mittelschicht, zwischen Oben und Unten zerrieben zu werden. 

Prof. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ veröffentlicht.