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Geschlechterreflektierte Pädagogik

Das Bad wurde rosa

In der Berliner Kita Sonnenkäfer ist geschlechterreflektierte Pädagogik eingebettet in ein breiteres Konzept: vorurteilsbewusste Erziehung, egal ob es um Gender oder Rassismus geht. Ein Besuch.

An der „sprechenden Wand der Vielfalt“ in der Berliner Kita Sonnenkäfer hängen Fotos der Kinder, versehen mit Digital-Codes. Wer mit einem Sprachstift darauf tippt, hört eine Audio-Selbstdarstellung des Kindes: Wie heiße ich, was spiele ich gern, bin ich Junge, Mädchen oder keines von beidem? (Foto: Rolf Schulten)

Der Löwe hat die Augen weit aufgerissen. Paralysiert schaut er auf die Maus vor seiner Nase. Und schreit. Voller Angst. In der Kinderrunde, die fasziniert vor der groß an die Wand projizierten Buchseite hockt, entsteht Unruhe. „Das kann doch gar nicht sein“, ruft Mayla*. „Löwen sind mutig.“ – „Genau, die sind stark“, sagt Amir*. Erzieherin Stefanie Seyer wiegt den Kopf. „Aber schaut, auch ein Löwe kann vor etwas Angst haben, dieser hier fürchtet sich eben vor einem Mäuschen. Und ihr?“ – „Vor Spinnen“, sagt Nina*. „Vor Nüssen“, meint Tom*. „Und wann fühlt ihr euch mutig?“ – „Beim Klettern.“ – „Wenn ich schwere Kisten trage.“ Seyer nickt. „Wir sind alle mal stark und mutig, mal klein und ängstlich.“ Und das ist völlig okay, für Jungen, für Mädchen, für alle Menschen.

Freitagmorgen, das Berliner Himmelsgrau legt einen Schleier über den knallgelben Flachbau der Kita Sonnenkäfer im Stadtteil Neukölln-Britz. 130 Kinder, 22 Fachkräfte, zwei Etagen mit bunten Räumen für offene Gruppenarbeit und eine Vielfalt von Herkünften, Sprachen, manchmal auch Geschlecht. „Diese Mischung ist eine Stärke“, sagt Kita-Leiterin Andrea Müller. „Wenn wir offen und konstruktiv mit ihr umgehen.“ Genau das steht im Mittelpunkt des Konzeptes der Einrichtung des Berliner Trägervereins FiPP, Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis: vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung.

Anti-Bias-Approach

Anti-Bias-Approach heißt der Ansatz im Fachjargon. Entwickelt hat ihn die US-Amerikanerin Louise Derman-Spars in den 1980er-Jahren für die Arbeit mit Kindern ab dem Alter von zwei Jahren. Ziel ist eine Bildungsarbeit, die Bevorzugungen und Benachteiligungen der Kinder entgegenwirkt, für Diskriminierungen, Abwertungen und unterschwellige Vorurteile sensibilisieren und vor ihnen schützen will. Egal ob es um Gender, Rassismus oder Menschen mit Behinderungen geht. Seit 2000 wird das Konzept von der Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung (VBuE) erprobt und weiterentwickelt. Mittlerweile arbeiten Kitas in ganz Deutschland damit. Der VBuE bereitet Fachkräfte in mehrtägigen Workshops vor. Im Fokus stehen dabei vier Ziele: Kinder in ihrer Identität stärken; die Erfahrung von Vielfalt vermitteln; kritisches Denken über Gerechtigkeit und Fairness anregen; aktiv werden gegen Unrecht und Diskriminierung.

Keine Autos bei Jungs, keine Glitzerherzchen bei Mädchen

Seit 2011 ist das Team der Kita Sonnenkäfer dabei. Wer durch die Flure geht, erkennt sofort den wertschätzenden Blick auf Vielfalt – unaufdringlich, aber selbstverständlich. Im Erdgeschoss säumen Familienfotos die Wände, von den Familien selbst ausgesucht: Da sind Mutter, Vater, zwei Kinder; Mutter, Mutter, ein Sohn; Mutter und drei Kinder. Da sind Menschen mit dunkler oder heller Haut, mit Kopftuch oder ohne.

An der „sprechenden Wand der Vielfalt“ hängen Fotos der Kita-Kinder, versehen mit Digital-Codes. Wer mit einem Sprachstift darauf tippt, hört eine Audio-Selbstdarstellung des Kindes: Wie heiße ich, was spiele ich gern, bin ich Junge, Mädchen oder keines von beidem? Längst sind auch die Symbole an den Garderobenfächern verschwunden: keine Autos bei den Jungs, keine Glitzerherzchen bei den Mädchen. „Wenn ich das in anderen Einrichtungen sehe, geht bei mir der Bias-Alarm an“ – Fachkraft Angela Janasik-Erdem lacht. „Bei uns haben die Fächer einen Namen und ein Foto.“

„Immer wenn die Kinder selbst Themen aufbringen, die mit Diskriminierung und Einseitigkeiten zu tun haben, reagieren wir.“ (Angela Janasik-Erdem)

Der vorurteilsbewusste Blick durchzieht die Arbeit im gesamten Alltag. Dieser „Situationsansatz“ meint: „Immer wenn die Kinder selbst Themen aufbringen, die mit Diskriminierung und Einseitigkeiten zu tun haben, reagieren wir“, so Janasik-Erdem. Jungs sind mutiger als Mädchen? Darüber hatte es in der Gruppe in den vergangenen Tagen Diskussionen gegeben. Und so hat Fachkraft Seyer heute Morgen die Geschichte des Löwen, der auch mal Angst hat, mit den Kindern gelesen. Was ist mutig, was ist ängstlich, und hat das was mit dem Geschlecht zu tun?

Kinder vor Abwertung schützen

Wie schwer es sein kann, sich von Stereotypen zu lösen, merken die Fachkräfte auch an sich selbst. „Einem Jungen rosa Wechselwäsche anziehen?“, Janasik-Erdem lacht. „Das bringe ich immer noch nicht fertig.“ Aber genau diese Auseinandersetzung mit den eigenen Prägungen ist wesentlich für eine vorurteilsbewusste Erziehung. Nur dann kann man bewusst und offen damit umgehen.

Identität stärken, Vielfalt erleben, sensibel sein – das ist die Basis. „Entscheidend aber ist, als Fachkräfte ehrlich Position zu beziehen und vor Abwertung zu schützen“, betont Kita-Leiterin Müller. Wie neulich, als sich zwei kleine Freundinnen am Frühstückstisch versprachen, einander zu heiraten. „Das dürft ihr nicht“, riefen andere. „Da haben wir klar interveniert: Doch, in Deutschland dürfen Frauen Frauen heiraten“, sagt Müller. „Und auch als später die Eltern protestierten, haben wir auf die Rechtslage verwiesen.“

Genauso wichtig sind klare Regeln. Schubsen und abwertend über andere Kinder zu sprechen, ist nicht in Ordnung. Wer davon den Erzieherinnen erzählt, ist keine Petze, sondern leistet einen Beitrag zu einem fairen Miteinander – und ermöglicht den Fachkräften gegenzusteuern.

„Wir mussten entscheiden: Was ist wichtiger – Gender oder Partizipation?“ (Andrea Müller)

Vorurteilsbewusste Bildung ist nie fertig. Im Dezember erst war wieder Fortbildung. Was ist queer, was ist trans? Wie gehen wir damit im Alltag um? Im April beginnt die Evaluation: Wo läuft die Arbeit gut, was können wir verbessern? Denn, natürlich, nicht immer läuft alles glatt. Wie bei jenem Mädchen mit zwei Müttern. Offen war über die Familienkonstellation gesprochen worden, ein Problem schien es nicht zu geben. Erst nach der Einschulung des Mädchens erzählten die beiden Frauen den Erzieherinnen: Unsere Tochter wurde während ihrer Kita-Zeit nie zum Geburtstag anderer Kinder eingeladen, sie hat sich ausgegrenzt gefühlt. Müller: „Jetzt haben wir auch das auf dem Schirm.“ Und immer wieder gilt es, im Alltag abzuwägen. Als das Mädchenbad renoviert wurde, durften die Mädchen die Farbe aussuchen. Sie wählten Rosa. „Wir mussten entscheiden: Was ist wichtiger – Gender oder Partizipation?“ Das Bad wurde rosa.

Eltern einbinden

Bald ist Mittagszeit. Unten klappert das Geschirr, in der „Familienecke“ stehen zwei Jungs am Puppenhaus und im Erdgeschoss, wo der Hausmeister gerade das Schaukelauto repariert, drängen sich Mädchen genauso um ihn herum wie Jungs. „Es ist schön, wenn diese Dinge selbstverständlicher werden“, sagt Janasik-Erdem. Wie wichtig es ist, dabei die Eltern mitzunehmen, bespricht das Team oft. Müller: „Ohne die Eltern einzubinden, ihre Kultur, ihre Werte, ihre Prägungen ernst zu nehmen, geht es nicht.“ Längst sind sie Teil von mehrsprachigen Vorleserunden und Festen, willkommen im Garten und bei Familienaktionen. Alle zwei Monate gibt es Elterngesprächskreise. Was gefällt, was irritiert, wünscht ihr euch mehr Erklärungen?

Neulich erst hat ein aufgebrachter Vater bei Müller angerufen. „Ich verbiete Ihnen, meinen Sohn im Prinzessinnenkleid durch die Kita laufen zu lassen.“ – „Kommen Sie vorbei, wir können gerne persönlich darüber sprechen“, hat die Kita-Leiterin geantwortet. Am nächsten Tag rief der Vater, einst selbst Kind in der Kita Sonnenkäfer, wieder an: „Frau Müller, entschuldigen Sie, ich habe mit meiner Mutter gesprochen – auch ich bin mit Prinzessinnenkleidern durch Ihre Kita gelaufen. Geschadet hat mir das nicht.“ 

*Namen der Kinder geändert